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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 9
54. Jahrgang | Oktober
Gegengift
Die Bullshit-Pyramide
Der emeritierte Princeton-Professor Harry G. Frankfurt, 76, hat
ein Buch geschrieben, das überraschenderweise in den Top Ten
der Book-Charts der „New York Times“ landete und inzwischen
auch der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ eine
Kolumne wert ist. Überraschend deshalb, weil Frankfurt bisher
nur ein Autor für die „happy few“ des Orchideenfachs
Philosophie war (und auch da bloß für wenige). Überraschend
auch, weil er ein Thema behandelt, das nicht unbedingt bestsellertauglich
scheint – es sei denn, es spricht vielen aus dem Herzen. Harry
Frankfurt spricht über „bullshit“ – und das
klingt höchstens ein wenig freundlicher als mögliche deutsche
Übersetzungen – und meint damit das, was Medien, „Experten“
und sonstige Vertreter einer „intellektuellen Elite“
massenhaft absondern. Bullshit, sagt Frankfurt, ist schlimmer als
Lüge, weil Lüge immerhin noch ein Bewusstsein der Wahrheit
voraussetzt, so etwas wie intakte Realitätswahrnehmung und
präzises Denken. Bullshit dagegen ist ein frei flottierendes,
offenbar rauschhaftes Überbauphänomen, das man, mit den
Worten Valentins, nicht einmal ignorieren müsste, wenn es nicht
dabei wäre, Politik und Gesellschaft nachhaltig zu verändern.
Beispiele gefällig? Da fällt es schwer, sich zu entscheiden.
Allein die gegenwärtige demographische Hysterie („Die
Deutschen sterben aus!“, „Wer soll unsere Renten bezahlen?!“)
bietet Material in Hülle und Fülle. Nehmen wir einen Tagesthemen-Dauerbrenner
wie die Bevölkerungspyramide, die künftig, Harry G. Frankfurt
zu Ehren, nur noch Bullshit-Pyramide heißen soll. Da wird
von Politikern und Kommentatoren gedankentief von der „gesunden“
Bevölkerungspyramide geschwafelt, die leider Vergangenheit
sei. Gedankentief heißt im Medien-Diskurs soviel wie gedankenlos.
Hysterie und Logik vertragen sich schlecht, ernst genommen wird
heutzutage nur, wer sich strikte analytische Abstinenz verordnet.
Eine Bevölkerungspyramide ist nicht „gesund“, sondern
ganz im Gegenteil ein Produkt von Kriegen, Krankheiten und sonstigen
Katastrophen. Eine Pyramide bekommt man nur, wenn so viele Sechs-
wie Sechsundachtzigjährige, so viele Siebzehn- wie Siebenundsechzigjährige
sterben. Die Pyramide ist die Folge von Kindersterblichkeit, Schlachtfeldgemetzel,
Infektionswellen und ruinösen Arbeits- und Lebensbedingungen.
„Gesund“ wäre höchstens der Bevölkerungsblock,
wenn nämlich jeder erst, von Krankheiten und Gewalteinwirkungen
lebenslang verschont, im hohen Alter sterben würde.
Aber sterben „wir“ nicht aus? Gibt es nicht immer
weniger Deutsche? Bullshit, um mit Harry Frankfurt zu sprechen.
Demographische Hysterien gab es schon immer, nur die Inhalte wechseln.
So diagnostizierte der „Bevölkerungswissenschaftler“
Malthus um 1800, zu einer Zeit, als eine Metropole wie Weimar ein
5000-Seelen-Dorf war, eine unmittelbar bevorstehende Hungerkatastrophe
wegen „Überbevölkerung“. Thomas Mann wiederum,
um beim verdienstvollsten aller Goethe-Erben zu bleiben, konstatierte
in seinem vielgescholtenen, aber offenbar nie gelesenen Buch „Betrachtungen
eines Unpolitischen“ ein Aussterben der Deutschen wegen abnehmender
Kinderzahl, mit „Argumenten“, die sich von den heutigen
in nichts unterscheiden. Sein Katastrophenjahr, der „point
of no return“, ist übrigens das Jahr 1900, das derzeit
oft als das Utopia eines intakten Bevölkerungsaufbaus herhalten
muss. Bullshit. Die Nazis wiederum wurden spätestens in den
30er-Jahren hysterisch, weil sie das Gefühl nicht los wurden,
die Deutschen müssten in den engen Grenzen des Deutschen Reichs
ersticken. Die demographische Parole hieß damals „Volk
ohne Raum“ und diente als Begründung für den Vernichtungs-
und Eroberungsfeldzug gen Osten. Damals, nur zur Erinnerung, lebten
auf dem noch sehr, sehr viel größeren deutschen Staatsgebiet
knapp 60 Millionen Einwohner. Heute fürchtet man in der sehr
viel kleineren Bundesrepublik leere, wüste Räume und denkt
an Gebärprämien – bei immerhin 82 Millionen Einwohnern.
Bullshit? Bullshit!
Ähnlich bullshitig sind die hysterischen Attacken auf Verkehrs-
und Kriminalpolizei und die nicht minder rasenden Anforderungen
an die zuständigen Gesetzgeber. Das Unheil scheint immer und
überall. Während doch die Zahl der Verkehrstoten seit
Jahrzehnten genauso sinkt wie die der Opfer von Gewaltverbrechen.
Aber es gibt ja nicht nur „gefühlte“ Teuerungsraten,
sondern auch „gefühlte“ Unsicherheit und die ist
realitäts- und, wie man heute so schön sagt, beratungsresistent.
Bullshit, sagt der alte Harry Frankfurt, und man weiß nicht
so recht, ob er grimmig oder zynisch dreinschaut.
Und, gibt es gar keine Hoffnung? Doch, dass ein Buch wie Harry
Frankfurts „On Bullshit“ auf der New-York-Times-Bestsellerliste
landet. Offenbar stinkt es mehr Leuten als die großen Windmacher
ahnen.