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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 28
54. Jahrgang | Oktober
Jeunesses Musicales Deutschland
Neue Musik wie aus Geisterhand
Jeunesse Moderne 2005 auf Schloss Weikersheim
Kratzen, Schaben, Klopfen, Pfeifen, Summen, Schreien und weitere
kuriose Klänge versetzten die Besucher von Schloss Weikersheim
zehn Tage lang in Ratlosigkeit über das Geschehen im Gemäuer.
Ab Einbruch der Dunkelheit bis weit nach Mitternacht verwandelte
sich das Schloss in ein gespenstiges Anwesen, da aus licht-erloschenen
Räumen wie aus Geisterhand Neue Musik ertönte. Hinter
Vorhängen, auf Stühlen stehend oder unter einem Tisch
kauernd erblickte man bisweilen Silhouetten von Menschen und ihren
Instrumenten.
Die Erklärung für die rätselhaften Vorgänge
heißt Jeunesse Moderne, eine seit fünf Jahren bestehende
Akademie für zeitgenössische Kammermusik: 40 Studenten
und 13 Dozenten aus Deutschland, Frankreich, der Schweiz, Österreich
und der diesjährigen Gastnation Tschechien erarbeiteten in
zehn Tagen ein vielgestaltiges Spektrum Neuer Musik und stellten
dies in vier Konzerten in Weikersheim und München vor. Das
Repertoire wurde ergänzt von Improvisationsworkshops, in denen
die Studenten neue Raumwege mit ihren Instrumenten zu beschreiten
lernten. Insbesondere hierbei überbrückte die universelle
Sprache der Musik Verständigungsbarrieren, führte die
Studenten noch enger zusammen. Es entstand eine harmonische Gemeinschaft
auch mit den Dozenten und dem Organisationsteam, in der das Individuum
und seine jeweilige Kultur nicht verloren ging, sondern Respekt
fand.
Im Mittelpunkt der täglichen Probenarbeit standen die Uraufführungen
der drei „Jeunesse Moderne“-Kompositionsaufträge,
die diesmal von Larisa Vrhunc (Frankreich/Slowenien), Sascha Lino
Lemke (Deutschland) und Miroslav Srnka (Tschechien) stammten. Sie
tauschten ihre Visionen und Vorstellungen von ihren Werken mit denen
der Studenten aus und erarbeiteten gemeinsam ihre Stücke.
Mit „Considérant deux pages du journal“ präsentiert
Larisa Vrhunc Auszüge aus einem musikalischen Tagebuch. Das
Ergebnis sind zwei Tages-Miniaturen, wovon die erste sich durch
einen klaren Puls und verschiedene Aspekte desselben charakterisiert
und die zweite sich durch einen freien Strom von Tönen, geformt
durch Harmoniewechsel, auszeichnet. Der klare Puls der Komposition
ermöglicht Musikern wie Zuhörern, sich ganz auf den Klangrausch
zu konzentrieren. „Les fées sont d’exquises danseuses“
nennt der Komponist Sascha Lino Lemke selbst einen „bisweilen
recht verhuschten und immer schillernden Sommernachtstraum, durch
den sich eine Art rhythmische Nachricht, vielleicht eine Art Relikt
eines imaginären Bossa Novas eines João Gilberto, ihren
Weg sucht.“ Das Werk ist eine Hommage an Debussy, dem er seine
Wertschätzung nicht nur durch die Übernahme des Titels
aus einem seiner Préludes offenbart, sondern auch durch seinen
Kompositionsstil. Lemkes einkomponierte Arpeggien weisen auf virtuose
Passagen aus Debussys Prélude. Die in „zu großen“
großen Sekunden gedachte Streicherscordatur erinnert an Debussys
Ganztonklanglichkeit.
Miroslav Srnka setzt mit „Magnitudo 9.0“ ein Mahnmahl
für das Seebeben im Indischen Ozean am 26. Dezember 2004, durch
dessen Flutwellen über 180.000 Menschen ihr Leben verloren.
Besonders der minutenlang ertönende Klang Thailändischer
Plattenglocken erinnert an die Opfer der Katastrophe. Als angemessenen
Rahmen für seine Komposition ließ Srnka bis auf die Instrumente
und Gesichter der Musiker die Welt in Dunkelheit versinken. In dieser
andächtigen Atmosphäre wurde das Meer und seine Mächtigkeit
nicht nur hör-, sondern auch spürbar. „Magnitudo
9.0“ basiert auf einer konstant wiederholten Tonstruktur,
die zwei voneinander weit entfernte Materialansichten der Musik
des 20. Jahrhunderts zu vereinigen versucht: Spektralismus und Dodekaphonie.
Die Uraufführungen wurden mit begeistertem Applaus honoriert
und versprechen eine lange Erfolgsgeschichte. Übrigens sind
die „Jeunesse Moderne“-Auftragswerke der ersten drei
Jahre auf CD dokumentiert und bei der JMD erhältlich.
Jeunesse Moderne stellt eines der gegenwärtig bemerkenswertesten
Vermittlungskonzepte Neuer Musik dar und bietet in seiner Intensität
einen höchst wirkungsvollen Zugang zu Neuer Musik und Improvisation
für junge Musiker, die danach nicht selten die zeitgenössische
Musikszene bereichern. In Kürze veröffentlicht das Institut
für Kulturelle Innovationsforschung (IKI) in Kooperation mit
der JMD die Studie „Interkulturelles Lernen durch Musikprojekte:
Evaluation der interkulturellen Zusammenarbeit in High Performing
Teams der Akademie für zeitgenössische Kammermusik Jeunesse
Moderne“. Weitere Informationen unter www.jeunessesmusica
les.de und www.iki-hamburg.de. Im nächsten Jahr findet Jeunesse
Moderne in Südfrankreich statt, Gastland wird Italien sein.