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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 1-2
54. Jahrgang | Oktober
Leitartikel
Multikulti gibt es nicht, aber kulturelle Vielfalt
...und: Wer das Eigene nicht kennt, kann das Andere nicht erkennen
· Von Christian Höppner
„Habt ihr auch ein paar afrikanische Trommelgruppen dabei?“,
fragte mich ein Dozent einer deutschen Musikhochschule, denn Afrika
sei doch so „in“. Mit seiner Frage bezieht er sich auf
die bevorstehende Tagung des Deutschen Musikrates am 4. und 5. November
2005 in Berlin unter dem Titel „Musikland Deutschland –
Wie viel kulturellen Dialog wollen wir?“. Auf meine Nachfrage,
was er denn von dieser Tagung erwarte, formulierte er vor allem
seinen Wunsch nach ganz viel Musik, möglichst in der Vermischung
unterschiedlicher Ethnien, denn „wir sind doch eine Welt“.
Die Erwartungshaltungen fokusieren häufig in der Verkürzung
auf eine weitere Multikulti-Veranstaltung – und genau das
wird diese Tagung nicht sein. Der Deutsche Musikrat möchte
mit dieser musikpolitischen Tagung nicht eine weitere multikulturelle
Kuschelecke einrichten, sondern das Beziehungsfeld „Kulturelle
Identitäten und Interkultureller Dialog“ in den Mittelpunkt
stellen.
Der Begriff „Multikulti“ hat sich in vielen Lebensbereichen
etabliert, ohne dass sich damit eine Begriffsschärfung verbindet.
Die Bandbreite dessen, was mit diesem Begriff verbunden wird, ist
etwa so weit angelegt, wie die Bandbreite der Instrumentalisierung
aus unterschiedlichsten Interessenlagen. Diese Entwicklung hat zu
einem Gemischtwaren- laden der Interpretationen geführt, der
weder den jeweils damit verbundenen Zielen dient, noch die Nebelschwaden
einer multikulti-seligen Begriffsverklärung lichten kann. Der
Grund ist einfach: Multikulti gibt es nicht. Jede Kultur lebt durch
die Wahrnehmung und Selbstäußerung des Individuums. Die
wahllose Vermischung kann nicht funktionieren, weil der Prozess
kultureller Identitätsbildung ein langfristig angelegter und
ein Leben lang wirkender Prozess ist. Somit ist Multikulti ein Code
für eine von vorneherein gescheiterte Idee ohne Realitätsbezug.
Die Wahrnehmung unterschiedlicher Identitäten kann nur über
eine Position des „sich selbst bewusst zu sein“ gelingen
– denn wer das Eigene nicht kennt, kann das Andere nicht erkennen,
geschweige denn schätzen lernen. Die Neugier und Offenheit
jedes neugeborenen Kindes sind Chance und Verantwortung zugleich,
dieses Selbstbewusstsein im Sinne einer breit angelegten und qualifizierten
kulturellen Bildung anzulegen.
Diese drei Grundpfeiler im Dialog der Kulturen, Selbstbewusstsein,
Offenheit und Neugier sind uns weitgehend abhanden gekommen –
nicht zuletzt weil wir im Umgang mit unserer jüngeren Geschichte
beispiellose Verdrängungsmechanismen entwickelt haben. Ich
kenne kein Land, das sich in seinem kulturellen Selbstverständnis
derart zwischen Erinnerungskultur, Verdrängung und der Jagd
nach einer „neuen“ Identität verfangen hat. Die
leidigen Diskussionen zum Thema „Leitkultur“ haben gezeigt,
wie eingeengt und tabuisiert diese Meinungsbildungen in der Öffentlichkeit
stattfinden. In dem Spannungsfeld politischer Instrumentalisierungen,
medialer Sensationsbefriedigung und Verdrängung geht der Blick
auf gesellschaftliche Entwicklungen und Zusammenhänge verloren.
Diesen Nachkriegszustand können wir nur durchbrechen, wenn
wir kulturelle Selbsterfahrung und damit kulturelle Identitätsfindung
ermöglichen und stärken.
In politisches Alltagshandeln übersetzt würde es bedeuten,
Sonntagsreden in Montagshandeln umzusetzen, statt beispielsweise
durch ausfallenden Musikunterricht, Kürzungen und Schließungen
bei den Musikschulen das wertvolle Kreativpotential von Kindern
und Jugendlichen mehr und mehr verrotten zu lassen und damit den
Entscheidergenerationen von morgen und übermorgen die Grundlage
für einen kulturellen Dialog auf Augenhöhe zu entziehen.
In politisches Alltagshandeln übersetzt würde es bedeuten,
die Wahrung kultureller Vielfalt im Sinne der geplanten UNESCO-Konvention
als unverzichtbares Gegengewicht zu den „Shareholder Value“
durchwirkten Globalisierungsentwicklungen bewusst zu machen und
zu stärken, statt die Auswirkungen der EU-Dienstleitungsrichtlinie
nur auf die deutschen Schlachthöfe bezogen zu kommunizieren.
Die Europäische Union wird keine Überlebenschance haben,
wenn sie ihre Einheit nicht zuerst über ihre kulturelle Vielfalt
definiert. In politisches Alltagshandeln übersetzt würde
es bedeuten, das Spannungsfeld zwischen privilegierter Partnerschaft
oder Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU nicht nur als
eine Frage geostrategischer Überlegungen oder kultureller Ausschlusskriterien
zu diskutieren, sondern vor der Folie eines breit angelegten Dialoges
zu kommunizieren.
Ein Dialog, den wir von der Kommunalebene bis zur Auswärtigen
Kulturpolitik viel stärker befördern müssen als bisher.
Dabei richtet sich diese Verantwortung in besonderer Weise auch
an die zivilgesellschaftlichen Kräfte im Kulturbereich, denn
Kultur- beziehungsweise Musikpolitik ist Gesellschaftspolitik. So
hat der Landesmusikrat Berlin im Jahr 2001 als erstes Bundesland
die Wertungskategorie Baglama (türkische Langhalslaute) bei
Jugend musiziert Berlin gegen so manchen Widerstand eingeführt.
Die Erfahrungen in Bezug auf Begegnung, (Kennen-)Lernen und ein
bisher unbekanntes Maß an Verständigung sind beglückend.
Warum sollten nicht die Musikhochschulen ein Signal setzen, indem
sie sich in ausgewählten Schwerpunkten ihre Instrumentalausbildung
in diesem Sinne erweitern?
Andere Kulturen in unserem Land als Reichtum und nicht als Bedrohung
zu empfinden, ist eine Voraussetzung für den interkulturellen
Dialog. Dieser Dialog kann nur gelingen, wenn wir unsere Wurzeln
nicht nur ausgraben, um nachzusehen, ob sie noch da sind, sondern
wenn diese Wurzeln uns Nährstoffe in unserer sich täglich
immer wieder erneuernden kulturellen Selbstfindung liefern. Diese
Nährstoffe können aber nur fließen, wenn wir uns
nicht selbst immer wieder durch gesellschaftlich kurzsichtige und
volkswirtschaftlich teure Kürzungen in Bildung und Kultur das
Wasser abgraben.
Diese Zusammenhänge im gesellschaftlichen Bewusstsein deutlich
zu machen, ist die Voraussetzung für einen wirklichen Wandel
in unserem Verhältnis zu kultureller Vielfalt in unserem Land.
Dazu sind nicht nur die Politik, sondern auch die Bürgerinnen
und Bürger und mit ihnen die zivilgesellschaftlichen Kräfte,
wie zum Beispiel der Deutsche Kulturrat oder der Deutsche Musikrat,
gefordert.