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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 9
54. Jahrgang | Oktober
Magazin
Warschauer Herbst
Wiege für ein polnisches Ensemble Modern?
Polnisch-deutsche Ensemblewerkstatt für Neue Musik beim
Warschauer Herbst
Auf Initiative des Deutschen Musikrates formierten sich im Deutsch-polnischen
Jahr Mitglieder des polnischen Ensembles „kwartludium“
mit jungen europäischen Instrumentalisten zur Polnisch-deutschen
Ensemblewerkstatt für Neue Musik. Zum dritten Mal gingen junge
Musiker aus verschiedenen europäischen Ländern für
eine Woche in Klausur, um das Ergebnis ihrer Zusammenarbeit beim
Festival Warschauer Herbst zu präsentieren. – Ein Erfahrungsbericht.
Warschau, im Herbst. Von Beschaulichkeit keine Spur. Energisch
arbeitet die Stadt an ihrem Erscheinungsbild. Straßen, Bürgersteige,
Fassaden, überhaupt alles, worauf einer gehen, stehen, fahren
und draufschauen kann, sind der fortgesetzten kritischen Prüfung
unterzogen: „Renowacja! Modernizacja! Renovieren! Sanieren!“
sind die Parolen, die hier noch von jedem Presslufthammer, jeder
Bohrmaschine weitergegeben werden. Baustellen allerorten: Am Flughafen,
auf dem Weg in die Stadt. Das Hotel eingerüstet und noch an
der „Academia Muzyczna Frederyka Chopina“, der Musikakademie
Frederik Chopin, wo die Probebühne der Polnisch-deutschen Ensemblewerkstatt
aufgeschlagen ist, bringen Handwerker den Eingangsbereich auf Hochglanz.
Mehr von allem, vor allem aber: Bloß keine Mängelverwaltung
mehr! Immer wieder nur ausflicken, wie zu verflossenen volksrepublikanischen
Zeiten üblich, gilt im heutigen Polen klassenübergreifend
als steinzeitliches Verfahren. Spiegelglatt muss der Belag sein,
auf dem wir einer neuen Zeit entgegenrollen! Darin zumindest ist
man im Westen angekommen.
Und dann auf einmal Musik, die sich in diese Ästhetik nicht
recht fügen will. Klänge, die eine Dimension betreten,
vor der nicht wenige Instrumentallehrer ihre Studenten immer gewarnt
haben. Dirigent Rüdiger Bohn von der Zeitgenössischen
Oper Berlin, zum dritten Mal künstlerischer Leiter der Ensemblewerkstatt
beim Warschauer Herbst, fordert ausdrücklich ein, wovor der
„gut“ erzogene Musiker instinktiv zurückschreckt:
Den Klang mit Geräusch verbinden! So die Anforderungen im diesjährigen
Werkstatt-Programm. Eingelöst allerdings weniger in den Arbeiten
der Komponistinnen Bohdana Frolyak (Ukraine) oder in jener der Vertreterin
des polnischen Gastlandes Dobromila Jaskot. Demgegenüber erschien
die Musik eines Georg Friedrich Haas („Monodie“), Toshio
Hosokawas („Voyage IV-Extasis“), Wolfgang Rihms („Pol
– Kolchis – Nucleus“) wie von einem anderen Stern.
Vor allem Rihms Tryptichon forderte vom Ensemble, zumal im Mittelteil,
abrupte, geräuschbetonte Wechsel vom drei- und vierfachen Sforzato-Fortissimo
zum Piano und zurück. Was im real existierenden Gemeinwesen
– im polnischen wie im bundesdeutschen – unweigerlich
den Vermerk „Renowacja! Sanierungsbedürftig!“ erhalten
würde, ist in der Tonkunst gerade das Neuland, das zu betreten
ist. Mancher Werkstatt-Teilnehmer hat es in einer intensiven Arbeitswoche
mit Erstaunen registriert.
„Bartók-Pizzikato!“ – „Am Steg!“
„Kräftiger Bogen!“ Vor allem die tiefen Streicher
sehen sich mit Rüdiger Bohns energischem, nicht nachlassendem
„More noise!“ konfrontiert. Das Kellerstudio der Academia
Muzyczna Frederyka Chopina gleicht zeitweise der Atmosphäre
eines Kraftraums, zumal wenn Bohn während seines Dirigats die
ächzenden Celli, die geschlagenen, gerissenen Geräusche
im Kontrabass in bestätigender, ermunternder Absicht kommentiert.
Die Luft im fensterlosen Studio 1 der Musikakademie ist zum Schneiden.
Bohn lässt nicht locker, schlägt sich im Eifer des Gefechts
den Finger blutig. Wer von der Kunst will leben, muss der Kunst
was geben.
In der Generalprobe, wenige Stunden vor dem Abschlusskonzert, erfahren
die 22 Teilnehmer schließlich die Legitimation der eingeforderten
Ästhetik einer instrumentalen Körperlichkeit. Toshio Hosokawa
sucht das Gespräch mit den Musikern. Im Zentrum einmal mehr
die Flöte. Der Komponist hat sich in „Voyage IV“
für Akkordeon und Ensemble diffizile Luftgeräusche vorgestellt,
deren Realisierung die examinierte junge polnische Flötistin
ein weiteres Mal in Gewissensnöte stürzt. Schon während
der Probenarbeit entgegnete sie dem verdutzten Dirigenten: „Aber
dann denken doch alle, ich könnte gar nicht richtig spielen!“
Nach dem Konzert zeigt sich der sensible japanische Komponist
hochzufrieden. „Ich bin glücklich!“ sagt Hosokawa
über die Interpretation einer Partitur, die die Ensemblewerkstatt
soeben unter großem Beifall im ausverkauften Kammermusiksaal
gemeistert hat. Tatsächlich hätte man im mehrheitlich
jungen Publikum die Stecknadel fallen hören. Kein Huster, kein
Räuspern. Gebannt folgt man einer Musik, die in ihrer Pianissimo-Struktur,
in ihrem durch die Register gehenden Durchschwingen in eine Dimension
verweist, für die das Bewusstsein erst noch entstehen muss.
Unter den Zuhörern ist auch der Festivalkurator des Warschauer
Herbstes Tadeusz Wielecki. Die Initiative des Deutschen Musikrates,
die von Goethe-Institut und GVL, der Gesellschaft zur Verwertung
von Leistungsrechten, finanziert wird, sieht er in größerer
Perspektive. Die Rede kommt auf ein Desiderat. Ein Solistenensemble
vom Rang der großen europäischen Ensembles steht in Polen
noch auf der Wunschliste, geht es doch um die Realisierung von Partituren
diesseits von Henryck Gorecki oder Benjamin Britten wie Wielecki
betont. Dass die Ensemblewerkstatt auf Musikrats-Initiative nun
zum dritten Mal in Warschau etabliert werden konnte, ist insofern
mit der Hoffnung verbunden, dass sie zur Wiege eines polnischen
Ensembles Modern werden möge.
Wie genau dies vonstatten gehen soll, weiß augenblicklich
niemand. Natürlich sind die finanziellen Fragen zu lösen,
wären Mentalitätsaspekte zu berücksichtigen. Denn
kaum scheinen Strukturen, die anderswo erfolgreich waren, auf polnische
Verhältnisse übertragbar. Ob die Eigeninitiative, die
Selbsthilfegruppe, als eine der westlichen Gründungsvarianten,
erwartet werden darf, wird von manchen Beobachtern bezweifelt. Ob
die andere Variante, ein Solistenensemble durch Beschluss herbeizuführen,
in Anbetracht der gerade erst überwundenen politischen Strukturen
wünschenswert ist, ebenfalls.
Andererseits gilt: „Noch ist Polen nicht verloren“.
Vielleicht öffnet ja der mit der polnisch-deutschen Ensemblewerkstatt
beschrittene Pfad ganz neue, ganz andere Wege. Die Gelegenheit wäre
günstig, feiert der Warschauer Herbst in zwei Jahren doch sein
50-jähriges Bestehen.
Georg Beck
Hörtipp: Bericht zur Polnisch-deutschen Ensemblewerkstatt
auch im Deutschlandfunk, Atelier neuer Musik, 8.10.05, 22.05 bis
22.50 Uhr