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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 13
54. Jahrgang | Oktober
Medien
Das interkulturelle Format des RBB
Die neue musikzeitung stellt Radiomultikulti vor
Seit 1994 gibt es in Berlin eine spezielle Welle für Deutsche
und Immigranten: Radiomultikulti: Ein Rundfunkexperiment, bei dem
Musik zunächst im Hintergrund stand. Über die Geschichte
und die aktuellen Entwicklungen unterhielt sich die nmz mit der
Chefredakteurin Ilona Marenbach und dem Musikchef Tobias Maier.
nmz: Wie ist Radiomultikulti entstanden? Wie kam
es dazu, dass der Sender Freies Berlin (SFB) als eine der Vorgängeranstalten
des Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) dieses Programm eingerichtet
hat?
Musikredakteur
Tobias Maier und Wellenchefin Ilona Marenbach. Foto: RBB/Hanna
Lippmann
Marenbach: Radiomultikulti ist damals –
getragen von politischem Rückenwind – als dreijähriges
Pilotprojekt entstanden. Man wollte sehen, ob es einen tatsächlichen
Bedarf für ein solches „Konstrukt“ gab. 1997 wurde
Radiomultikulti dann als gelungenes Experiment in den Regelbetrieb
des SFB überführt. Radiomultikulti entstand vor dem politischen
Hintergrund, dass es zu dieser Zeit in Deutschland Übergriffe
auf Asylbewerberheime und auf Immigranten gab - mit zum Teil tödlichem
Ausgang. Da hat man hier in Berlin die Initiative ergriffen und
gesagt: Wir müssen etwas tun. Der Auftrag damals wie heute:
Radiomultikulti will die Integration von Immigranten in die deutsche
Gesellschaft unterstützen, das gegenseitige Verständnis
von Deutschen und Nicht-Deutschen fördern und das Selbstbewusstsein
von Immigranten stärken.
Wir setzen unseren Auftrag mit einem Sendeschema um, das auf drei
Säulen beruht: Das Tagesbegleitprogramm auf Deutsch richtet
sich an Deutsche und Nicht-Deutsche. Hier findet interkultureller
Austausch statt: Wir informieren, es kann gestritten werden, und
die Hörer werden unterhalten. Die zweite Säule sind die
Muttersprachen-Sendungen am Abend. Ab 17.00 Uhr senden wir die Woche
über in 17 Fremdsprachen. Damit sprechen wir zielgerichtet
die einzelnen Communities an. „Zielgerichtet“ bedeutet
zu berücksichtigen, dass jede Gruppe ganz andere Voraussetzungen
mitbringt und eigene Bedürfnisse hat. Die dritte Programmsäule
ist die Musik: „world wide music“ ist etwas völlig
Neues, das es im Rundfunk so noch nicht gegeben hat.
Maier: Diese dritte Säule hat sich erst
im Laufe der Zeit herauskristallisiert. Ganz zu Anfang war das Musikprofil
eher zweitrangig. 1994 ging es vor allem um die Themen des Programms:
Wie macht man das, wie baut man das auf? Dann wurde das „Zwischendrin“
profiliert. Damals gab es schon die so genannte Weltmusik oder world
music. Sie wurde zu unserer Musik auf Radiomultikulti. Konzeptionell
sind wir jetzt nach elf Jahren bei der Bezeichnung world wide music
gelandet – in Abgrenzung zur Weltmusik. „World wide
music“ ist Popmusik aus aller Welt. Sie verstärkt die
Idee, die Integration und auch das Selbstwertgefühl unserer
nicht-deutschen Hörer zu stützen. Sie hören bei uns,
in einem deutschen Medium, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk,
ihre eigene, beispielsweise türkische oder griechische Musik.
Die Anteile müssen ganz fein austariert werden. Unsere Musik
soll für alle Hörer sein, auch für deutsche Hörer,
die Weltmusik lieben. Die Musik baut Brücken – wie das
Wortprogramm. Man hat einen Anteil an Gewohntem und einen Anteil
an vielleicht weniger Gewohntem. Diesen Spagat zwischen internationalem
und mitteleuropäischem Musikgeschmack versuchen wir zu bewältigen.
nmz: Aber der Bereich „Hochkultur“
der einzelnen Länder, also das, was bei uns zum Beispiel „klassische
Musik“ ist, wird in ihrem Sender nicht bedient?
Maier: Nein, wir spielen Popmusik, aber eben
keine angloamerikanische Popmusik. Wir haben natürlich ein
bisschen „Black Music“. Ansonsten verzichten wir völlig
auf die angelsächsische Popmusik, zum Beispiel auf Britney
Spears. Wir spielen Musik von Stars, die anderswo groß sind,
etwa Shakira aus Kolumbien, die meist auf Englisch singt - wir nehmen
die spanische Version. In Spezialprogrammen stellen wir auch traditionelle
Musik vor, beispielsweise aus Indien. Diese Musik setzen wir aber
nicht im Tagesprogramm ein, weil sie nicht so populär ist.
nmz: Ist Radiomultikulti dann eher ein Jugendprogramm?
Marenbach: Nein, denn viele Jugendliche stehen
– bedingt durch die Hörgewohnheiten – eher auf
ganz normale angloamerikanische Popmusik. Bis sich ein Musikgeschmack
herausgebildet hat, der darüber hinaus geht, fremde Klänge
und andere Rhythmen beinhaltet, braucht es meist ein bisschen Zeit.
Unser Hörerspektrum ist altersmäßig schwer einzugrenzen.
Es liegt zwischen 25 und 60 Jahren. Es gibt aber auch viele Jüngere,
die uns hören.
nmz: Wie kommen Sie an die Informationen über
Hörerstruktur und -zahlen?
Marenbach: Unsere Informationen beziehen wir
zum einen aus der Media Analyse, zum anderen haben wir vor fast
einem Jahr Stammhörer, Hörer aus dem weitesten Hörerkreis
(die, die angeben, unser Programm in den letzten 14 Tagen gehört
zu haben) und solche, die Radiomultikulti bisher nicht gehört
haben, befragt. Insgesamt hatten wir zu fünf qualitativen Gruppengesprächen
eingeladen.
nmz: Was sagt die aktuelle Media Analyse über
Radiomultikulti aus?
Marenbach: Sie besagt, dass wir in der multikulturellen
Stadt Berlin auf knapp ein Prozent tägliche Reichweite kommen.
In Brandenburg ist die Resonanz geringer. Insgesamt hören uns
19.000 Menschen pro Tag, laut Media Analyse. Unser Nachteil ist,
dass die nicht-deutschsprachigen Hörer, die die Muttersprachen-Sendungen
nutzen, bei solchen Erhebungen nicht gezählt werden.
nmz: Andere Kulturen sind auch sehr multikulturell
organisiert. Spiegelt Radiomultikulti diese Vielfalt wider?
Marenbach: Thematisch auf jeden Fall.
Maier: Musikalisch auch. Die Musik beziehen wir
zum großen Teil aus den Metropolen. Die afrikanische Musik,
die wir im Programm haben, kommt aus Paris und in den seltensten
Fällen aus Kinshasa. Die nordafrikanische Musik kommt ganz
oft aus Marseille oder Toulouse. Natürlich ist auch New York
eine wichtige Quelle. Das ist alles ganz kunterbunt gemischt, aber
alles schon vorgefiltert durch die vielfältigen Migrationsprozesse,
wie wir sie vor allem in Berlin haben. Vielleicht sind wir in Berlin
musikalisch nicht ganz so fit, um gleich Weltstars in dieser Szene
zu produzieren. Die Musik hat natürlich auch einen sehr starken
Symbolcharakter. Hier können sich viele unserer Hörer
wiederfinden.
nmz: Haben Sie denn einen bilateralen Zugang,
also von der deutschen zu anderen Kulturen, oder wird auch die Kommunikation
unter den Kulturen selbst gewünscht?
Marenbach: Das ist natürlich die Idealvorstellung,
aber ich musste mich auch schon von Vertretern der türkischen
Community fragen lassen, was denn das ganze Multikulti solle, wichtig
sei doch nur der Austausch zwischen Deutschen und Türken. In
diesem einen Fall war das schon eine etwas chauvinistische Haltung.
In anderen Fällen ist das aber auch nachzuvollziehen. Wenn
Ausländer nach Deutschland kommen, setzen sie sich erst mal
mit den deutschen Verhältnissen auseinander. Die Bereitschaft,
sich auf andere einzulassen – auf andere Kulturen auch –
das kommt vielleicht später. Wir Deutsche haben es leichter,
wir sind hier zu Hause und können aus dieser Position heraus
auch mal „in andere Fenster“ reingucken. Bei der Musik
macht sich das am ehesten bemerkbar. Die Deutschen und Migranten,
die schon sehr lange bei uns leben, können sich sehr wohl auf
etwas andere Rhythmen und Klänge einstellen, während für
Neuankömmlinge erst mal ihr „Eigenes“ wichtig ist.
nmz: Wie ist die Position von Radiomultikulti
innerhalb des RBB? Auch die Öffentlich-Rechtlichen legen ja
zunehmend auf Quoten wert.
Marenbach: Unsere Hörfunkdirektorin macht
uns keine Quotenvorgabe, und, wie gesagt, ein Programm wie Radiomultikulti
wird durch die Media Analyse bisher nicht adäquat erfasst.
nmz: Es gibt also auch keine Rechtfertigungsdiskussionen
im Sender?
Marenbach: Der Radiomarkt ist immer in Bewegung.
Jedes Programm muss seine Legitimation immer wieder beweisen und
darstellen.
nmz: Im politischen Bereich kommt immer wieder
mal das Thema hoch: Deutsch als Leitkultur. Könnte es irgendwann
mal sein, dass man sich Radiomultikulti nimmt und sagt: „Diese
muttersprachlichen Sendungen schmeißen wir alle raus, weil
Ausländer, die nach Deutschland kommen, Deutsch lernen müssen.
Wir machen lieber Deutschkurse für Polen oder Bosnier.“
Welche Position vertritt da Radiomultikulti?
Marenbach: Diese Diskussion flammt immer wieder
mal auf. Man kann sicher nicht davon ausgehen, dass nach dem Absetzen
von muttersprachlichen Angeboten plötzlich alle Migranten Deutsch
lernen. Genauso wenig halten wir mit einer Stunde türkischem
Programm am Tag Migranten davon ab, sich in die deutsche Gesellschaft
einzufinden. Im Gegenteil: Wir gehen davon aus, dass wir den Prozess
beschleunigen, indem wir gezielt über die Muttersprachen-Sendungen
Hinweise und Orientierungshilfen geben.
Radiomultikulti hat auch eine gewisse Funktion der Wertevermittlung.
Wer hier leben will, sollte sich bewusst für eine demokratische
Gesellschaft entscheiden, in der bestimmte Werte gelten wie zum
Beispiel Gleichberechtigung oder Religionsfreiheit.
Das sind Werte, die sich nicht unbedingt in den Programmen wieder
finden, die unter anderem Türken und Araber über Satellit
aus ihrer Heimat empfangen. Dies sind nicht immer demokratische
Medien, und was sie senden, hat mit der Realität in Berlin
überhaupt nichts zu tun. Den Migranten unsere Gesellschaft,
das heißt die Gesellschaft, in der sie leben, nahe zu bringen,
sie in den gesellschaftlichen Diskurs einzubeziehen – dafür
steht Radiomultikulti.
Das Gespräch führten Barbara Haack und
Martin Hufner