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2005/10 | Seite 24
54. Jahrgang | Oktober
Musikvermittlung
Musikalische Gratwanderung
Zwei neue Konzepte vermitteln zwischen Akteuren und Publikum
Die auf dem weiten Feld der Musikvermittlung agierenden Künstlerinnen
und Künstler versuchen zunehmend, neue Konzepte zu entwickeln,
die intensivere Chancen zur musikalischen Kommunikation zwischen
den Akteuren auf der Bühne und den Menschen im Publikum bieten.
Beide im Folgenden beschriebenen Projekte eint dieser Versuch:
„HipHop meets Klassik“
Der Versuch, Jugendliche für Klassische Musik zu begeistern,
ist schon oft gescheitert. Andererseits wird HipHop, gesehen als
ein Inbegriff von Jugendkultur, von Liebhabern und Experten Klassischer
Musik und von Musikpädagog/-inn/-en oft nicht als Kunstform
ernst genommen. „HipHop meets Klassik“ verfolgte den
Ansatz, beide musikalischen Stilrichtungen als ernst zu nehmende
musikalische Partner aufeinander treffen zu lassen, um so auf beiden
Seiten Vorurteile aufzuheben. Die traditionellen Grenzen der beiden
Genres sollten lokalisiert und – jedenfalls für den Moment
– überwunden werden. Ziel war es, durch ein gegenseitiges
musikalisches Aufeinandereinlassen eine Fusion beider Stilrichtungen,
also eine neue künstlerische Form – „eine neue
Musik“ – entstehen zu lassen. Simpler Klassikpop, bei
dem bekannte Klassikmelodien mit Beats unterlegt werden, sollte
nicht primäres musikalisches Ergebnis sein. Zudem sollten eingefahrene
Rituale klassischer Konzerte und von HipHop-Konzerten in diesem
Projekt aufgebrochen werden.
Wer war an dem Projekt beteiligt?
Mit der Bremer HipHop-Band „Twice As Nice“ und drei
Musikern der Bremer Philharmoniker (Perkussion, Violoncello und
Posaune), trafen auf Initiative der „Glocke“ zwei sehr
unterschiedliche musikalische Fraktionen aufeinander. Wesentliche
Voraussetzungen inhaltlicher und organisatorischer Art waren durch
die Kooperation des Konzerthauses Die Glocke mit den Bremer Philharmonikern
gegeben: Anrechnung des Probenaufwands als Orchesterdienste, Räumlichkeiten,
Werbung, Organisation, Projektleitung.
Wie waren die Proben?
Das erste Zusammentreffen aller beteiligten Musiker fand bei einem
der Philharmonischen Konzerte statt. Fast keiner der HipHopper hatte
zuvor ein klassisches Konzert, geschweige denn „Die Glocke“
besucht. Das Konzert bot direkten Anlass zum ersten Ideenaustausch:
„Ja, Breakdance zu klassischer Musik können wir uns vorstellen.“
Auch wurden ganz individuelle Wünsche geäußert:
„Der türkische Marsch ist doch von Mozart, oder? Ich
habe ihn als Handy-Klingelton, viele werden das Stück daher
kennen. Außerdem kann ich als Türke dazu eine Story erzählen.“
Im Laufe der Probenphase lernten Twice As Nice und die Bremer Philharmoniker
die unterschiedlichen Musikstile und sich gegenseitig als professionelle
Musiker besser kennen und schätzen. HipHop-Musik wurde als
stark rhythmusorientiert erfahren, eine Tanzmusik mit somatischer
Ansprache. Sie erscheint wie ein Patchwork aus vielen Elementen
wie musikalischen Zitaten, Geräuschen, Beats, Melodien, Übergängen;
kurz: Charaktereigenschaften, die sie vom stilistischen Idealtypus
eines klassischen, in sich geschlossenen Werkes mit Anfang, Mitte
und Ende und der häufig formulierten Intention, die Hörenden
in Kontemplation zu versetzen, unterscheidet. Die Projektarbeit
zeigte jedoch: Klassik kann auch starke körperliche Impulse
geben und HipHop kann meditativ sein.
Ein Problem der Zusammenarbeit bestand anfangs darin, dass die Klassiker
nach Noten spielten, die HipHops jedoch ohne jegliche musikalische
Aufzeichnungen. Dennoch lernten beide, sich zu verständigen.
Auch die musikalischen Begrifflichkeiten unterschieden sich: konnten
die HipHopper wenig mit Begriffen wie Unisono oder Phrasierung anfangen,
so stockten die Klassiker bei Worten wie scratchen oder b-boying.
Immer wieder stellte es eine Gratwanderung dar, die musikalischen
Ideen so umzusetzen, dass etwas Gemeinsames entstehen konnte und
dennoch die Authentizität beider erhalten wurde.
Wie war das Konzert?
Genau wie die Musiker konnte auch das Publikum im Konzert neue
Klangerlebnisse erfahren. Es bestand aus Jugendlichen (stylischen
Fly-Girls und B-Boyz), die die Schwelle eines „ehrwürdigen“
Konzerthauses wie „Die Glocke“ sonst eher nicht übertreten,
aus Kindern mit ihren Eltern, die schon seit längerem zum Publikum
der Kinder- und Familienveranstaltungen der Glocke gehören
und interessierten Klassik-Konzertbesuchern. Ungewohnt für
die HipHopper das Publikum im ausverkauften, bestuhlten Glockesaal
vor Augen, erklärte „Khan Kid Seven“ während
des Konzertes: „Wisst Ihr eigentlich, wie man sich hier auf
der Bühne in ‚Der Glocke’ fühlt? Wie bei einer
Oscar-Verleihung.“
Gleich zu Beginn brachte der ungewöhnliche Scratchbattle zwischen
dem DJ und dem Cellisten, sichtbar gemacht durch eine Breakdance
Performance, die Stimmung des bunt gemischten Publikums auf Hochtouren
und den Kleinen Glockesaal zum Beben. Der Battle (Wettkampf) ist
ein wesentliches Element des HipHop, bei dem tänzerisch gegeneinander
aufgetrumpft wird. Scratchgeräusche erzeugt der DJ durch das
Kratzen mit der Plattenspielernadel – Soundeffekte, die sich
auch einem Cello entlocken lassen (dabei war der begeisterte Zwischenapplaus
für die Bremer Philharmoniker offensichtlich neu, aber sehr
motivierend, auch für die folgenden Nummern). Die Breaker tanzten
manchmal routiniert und spektakulär zu ihnen vertrauten Beats.
Außerdem hatten sie Choreographien zu klassischen Stücken
entwickelt. Sie breakten zur Bachsuite und – wohl die ungewohnteste
Herausforderung – zu einer Komposition von Fauré, bei
der der Rhythmus frei schwebend intendiert ist. Das Konzert war
wie eine bunte Collage aus gemeinsamen Stücken in verschiedenen
Besetzungen, Klassik- und HipHop-Stücken, Slapstick und musikalischer
Persiflage konzipiert. Die Nummern schlossen aneinander an oder
gingen ineinander über. Ein Kompositionsprinzip, das dem HipHop
immanent ist und dem Publikum „Spaß, Innovationen und
Gedankenanstöße in rasant wechselndem Tempo bot, so dass
nach 90 Minuten und einigen Zugaben niemand die Glocke verlassen
wollte“ (Nordseezeitung).
Blicke zurück und nach vorn
Für das Konzert wäre es wünschenswert gewesen,
anhand von noch mehr Musikstücken Möglichkeiten der musikalischen
Fusion zu erfinden und aufzuzeigen. Jedoch waren zum einen Zeit
und Finanzen begrenzt. Zudem bedurfte es einiger kommunikativer
und organisatorischer Sensibilität, um die Partner so aufeinander
einzustimmen, dass tatsächlich ein Prozess des musikalischen
miteinander vertraut Werdens stattfand. Dieser benötigte individuell
seine Zeit! Auf der Basis dieses praktizierten offenen, spielerischen
Zusammenfindens konnte beim Konzert eine musikalische Kommunikation
zwischen beiden Partnern stattfinden, die wie ein Funke auf das
Publikum übersprang.
Die Musiker haben an verschiedenen Punkten voneinander profitiert.
Die Proben und Konzerte der HipHop-Band basieren auf Improvisation,
Kreativität, Spontaneität und direkter Interaktion mit
dem Publikum. Um mit den Bremer Philharmonikern zu fusionieren,
mussten sie sich auf die starke Probendisziplin und den detailliert
vorab getroffenen Konzertablauf einlassen. Durch diese Strukturgebung
gewannen Spontaneität und Improvisation beim Auftritt ein neues,
hohes Niveau. Auf der anderen Seite wurden, angespornt und gefeatured
durch die Musiker der HipHop-Band, in den letzten Proben und beim
Konzert zunächst verdeckte Potentiale an Spontaneität
und Kreativität bei den Bremer Philharmonikern freigesetzt.
Eine Wiederaufnahme findet im Juni 2006 statt.
Maike Berndt (Glocke Veranstaltungs GmbH)
Stockhausens „Tierkreis“
„Rocca Raccheti ist eine verwegene Astronautin, die ihren
Dienst auf der Raumstation SPIFF2 versieht. Ihre Aufgabe ist es,
den zwölf Sternbildern des Tierkreises die Geheimnisse zu entlocken
und sie zu erforschen.“ Wie soll Stockhausens Musik für
Kinder funktionieren? Dieser Frage sind fünf engagierte Künstler
nachgegangen: Theresita Colloredo, Konzept, Libretto und Schauspiel,
die Klarinettisten Petra Stump und Heinz-Peter Linshalm, der Akkordeonist
Krassimir Sterev sowie die Choreographin Elisabeth Orlowsky.
Dramaturgie
Das Publikum sollte für 50 Minuten in Stockhausens Musik und
die frei erfundene Geschichte eintauchen: Eigene Phantasiewelten
sollten entstehen. Die Melodien der zwölf Sternzeichen wurden
von Geschichten der Erzählerin aus der griechischen Mythologie,
einfachen Texten in wissenschaftlichem Ton, die für das Verständnis
des Zielpublikums adaptiert wurden, oder in choreografierten Sequenzen,
die von den spielenden Musikern selbst ausgeführt wurden, begleitet.
Die Texte wurden auf die Musik abgestimmt, Wort und Musik wechselten
sich ab und bauten eine gebannte Stimmung auf, die das Publikum
stets mit großem Interesse verfolgte.
Imagination als zentraler Parameter der Dramaturgie
Als zusätzlichen Anreiz stellte die Erzählerin jedem
Konzertbesucher ein kleines, virtuelles Raumschiff – ein „Spiffomobil“
– zur Verfügung, mit dem sie imaginativ durch das All
schweben konnten. Die Kommandos, die zum richtigen Handling des
unsichtbaren Fahrzeugs notwendig sind, waren für alle leicht
und schnell zu erlernen, und wurden von den Instrumenten klanglich
unterstützt. Die Produktion hat großen Wert auf die sinnliche
Einbindung des Raumes gelegt. Der Konzertsaal fungierte als gemeinsame
„Raumstation“ für Besucher wie Darsteller. Durch
dieses in sich geschlossene Raumkonzept konnte eine Atmosphäre
aufgebaut werden, die das Publikum ganz nah an die Künstler
heranführt: Die Kinder konnten die Musiker bei ihrer Arbeit
genau beobachten. Sie erlebten, wie Töne entstehen, klingen
und ihre Instrumente verlassen – auch durch die Bewegung und
Körperlichkeit der Musiker. Ein Kind, das diese Vorstellung
erlebt hat, wird den Klang einer Klarinette nicht wieder vergessen:
in einem weiten Spektrum von „kaum hörbar“ bis
„aggressiv, stechend“ (wie im Bild des Skorpions). Sicherlich
ist diese Version des „Tierkreis“ von einer besonderen
Emotion getragen.
Im folgenden Gespräch erläutert Theresita Colloredo,
Konzeptionistin des „Tierkreis“, ihre Herangehensweise
an das Werk.
Thoma: Haben Sie keine Angst, dass Stockhausens
Musik zu anspruchsvoll für Kinder ist?
Theresita Colloredo: Ich glaube nicht, dass es
Musik gibt, die zu anspruchsvoll ist. Schon gar nicht für Kinder.
Im Gegenteil: Oftmals werden Kinder in ihrem Auffassungsvermögen
unterschätzt. Die Auseinandersetzung mit Musik kann daher nicht
anspruchsvoll genug sein. In unserem Stück machen wir die Musik,
die Stimmung, die Tempi sichtbar und somit auch besser hör-
und erlebbar. Man kann nicht nur die Instrumente sehen. Die Musik
wird mit mehreren Sinnen gleichzeitig wahrgenommen werden. Wir nehmen
die Stücke soweit auseinander, dass die Kinder die Musik auch
nachvollziehen können.
Thoma: Gibt es Grenzen in der Programmauswahl?
Colloredo: Die Grenze liegt dort, wo wir ihre
Aufmerksamkeit verlieren. Wir können Kinder nicht zur Aufmerksamkeit
zwingen, aber wir können einen Rahmen schaffen, in dem sie
aufmerksam sind und ihr Interesse geweckt wird. Musikvermittlung
setzt dort an, wo Kinder von sich aus aufhören, zuzuhören.
Aber sie hätten vielleicht nicht aufgehört zuzuschauen
oder mitzumachen, wenn die Musik sichtbar wäre, wenn ihre Fantasie
angeregt und ihre spontanen Reaktionen Raum gehabt hätten.
Wir Erwachsenen haben diese höchst zivilisierte Form entwickelt,
klassische Musik zu genießen: Wir setzen uns für Stunden
nebeneinander in einen Raum, drehen das Licht ab und beschränken
unsere Wahrnehmung auf das Hören. Wir schalten alle anderen
Sinne aus und unterdrücken tunlichst jede spontane emotionale
wie körperliche Reaktion. Egal was vor uns gespielt wird –
ein Liederabend, ein Orchesterkonzert, Tanzmusik oder ein Requiem
– wir verhalten uns im klassischen Konzert jedes Mal gleich.
Kinder akzeptieren das nicht. Sie können es nicht! Deshalb
müssen das Alter der Kinder, ihre Aufmerksamkeitsspanne und
ihr Bewegungstrieb, ihre Sprache und medialen Erfahrungen mit in
Betracht gezogen und so viele Sinne wie möglich angesprochen
werden, wenn es darum geht, junge Menschen einen Schritt weiter
an Musik heranzuführen. In meiner Arbeit ordne ich den Text
der Musik unter. Er soll dazu dienen, die Musik zu beschreiben und
besser hörbar zu machen. Am besten nicht eins-zu-eins –
wie etwa: „das ist eine Klarinette“, „das ist
eine Triole“ oder „jetzt kommt Musik zum Fürchten“
–, sondern indem Szenen geschaffen werden, in denen die Musik
selbst-verständlich wird.
Thoma: Worin liegt für Sie der spezielle
Reiz, Musik für Kinder zu machen?
Colloredo: Ich spiele gerne für Kinder.
Der Kontakt zwischen Publikum und Darsteller ist sehr eng, und man
spürt sofort, ob etwas funktioniert oder nicht. Kinderkonzerte
haben eine gewisse Struktur, in der man sehr viele Freiheiten besitzt.
Es gibt zwar Regeln, aber innerhalb dieser Regeln darf man machen,
was man will.