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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 12
54. Jahrgang | Oktober
Nachschlag
Flachbild Deutschland
Die Türen öffneten sich, die Zukunft wartete auf dem
Berliner Messegelände. Nach zwei Sekunden hatte man die erste
Messehalle visuell erfasst, nach vier Sekunden war man reizüberflutet,
bereits nach zehn Sekunden kamen Kopfschmerzen hinzu. Tausende Flachbildschirme
pflasterten Wände, Decken und Fußböden. Im Praxistest
konnte man sich davon überzeugen, dass ein LCD doch besser
ist als Plasmafernseher… oder war das umgekehrt? 16:9? 100:0
für die Hersteller – man kam, angesichts der Eingleisigkeit
dieser IFA, aus dem Gähnen gar nicht mehr heraus.
Trotzdem: Mehr denn je scheint die Faszination für überflüssige
Technik ungebremst zu sein. Die Fähigkeit, objektiv Sinn von
Unsinn zu unterscheiden, schwindet angesichts eines Produktbreis,
der jeden noch so erhärteten Zweifel aufweicht. Und so priesen
alle Hersteller ihre Produkte, von denen keines wirklich innovativ
war, als unverzichtbar an. Ganz unter uns: Alle Firmen wissen, dass
es auf ein Endgerät hinausläuft, das alles kann. Technisch
wäre das längst realisierbar. Bis dahin dürfen sich
kommende Generationen auf Gerätemutationen wie Kinosessel mit
Duftdrüse oder Lockenstäbe mit Wireless LAN freuen. Der
Weg, der hier platt getreten wird, stammt nur leider aus dem letzten
Jahrhundert. Kreative Impulse waren nicht zu sehen, oder verliefen
sich in der Komplexität der Systeme.
Einiges führt die diesjährige IFA deutlich vor Augen:
Wie sehr wir bereits auf der Suche nach Essentiellerem sind und
wie schwierig es als Endbenutzer ist und wird, die immer abstrakteren
Attacken und Kampagnen der Hersteller zu durchleuchten. Es wird
klar, wie wenig wir die 90er-Jahre technisch überwunden haben
und wie sehr Konzepte aus dem letzten Jahrzehnt den inhaltlichen
Fortschritt überschatten, ja behindern.
Wir leben in den Anfängen von Technokratie. In einem Spagat
zwischen Bewusstsein über die Sinnlosigkeit vieler Errungenschaften
und der technischen Abhängigkeit, hervorgerufen durch Wirtschaft
und Politik. Orientierungslos nehmen wir inzwischen die Kollateralschäden
im Formatkampf gelassen hin. Unsere Kinder haben nur noch SMS-kompatible
500 Zeichen Platz ein Gespräch zu führen. Pädagogen
sehen jedoch durchaus Positives in der Shortmessaging-Sucht unserer
Schutzbefohlenen; „Esförderedochwiederdenwunschanachlesenundschreibenbeidenjugendlichen
HDGDL” wurde kürzlich geäußert…
Die Frage ist, wie lange es noch dauern wird, bis nicht mehr wir
den Inhalt und das Medium bestimmen, sondern das Medium, die Technik
kulturell irreversible Schäden hinterlässt und die Gesellschaft
entmenschlicht. Ein Technikboykott würde fehlschlagen, und
so bleibt uns die Versöhnung mit der toten Materie –
durchaus eine Möglichkeit. Wirtschaftlich ist dieses Hinauszögern
von wichtigen Neuerungen sicherlich rentabel, und die Suche nach
Ablenkung wird auch weiterhin andauern. Dass die Hersteller uns
mit MP3-Spielern mit integrierter Kamera und portablen Fotolabors
ihre eigene Überflüssigkeit vor Augen führen, ist
ebenso absurd wie zynisch. Wir kaufen es ja doch, Virilio soll Recht
behalten. Diese mobilen Zeitmaschinen dominieren schon lange unser
Zusammenleben, gestalten und beschneiden unsere Kommunikation. Die
Wege verkürzen sich, das Tempo zieht an.
Unsere persönliche Zeitersparnis kann uns jeder Mitarbeiter
der Mobilfunkunternehmen vorrechnen. Die Grauen Herren sitzen an
ihren Messeständen und paffen Stundenblumen. Momo, wo bist
du?