[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 46
54. Jahrgang | Oktober
Bücher
Als der Rundfunk noch ein Kulturproduzent war
Eine Untersuchung zur Programmpolitik des SWR im Bereich der
Neuen Musik
Gisela Nauck: Risiko des kühnen Experiments.
Der Rundfunk als Impulsgeber und Mäzen. SWR Schriftenreihe
Grundlagen, Bd. 7, Pfau-Verlag Saarbrücken 2004, 219 S., €
25,00, ISBN 3-89727-263-6
Werte treten immer dann ins Bewusstsein, wenn sie der Gesellschaft
abhanden kommen. Dann werden die Institutionen, in denen sie sich
ausbilden konnten, angemessen gewürdigt – leider zu spät,
um noch etwas am unerbittlichen Gang der Dinge (des Fortschritts?)
ändern zu können. So geht es auch mit dem guten alten
Kulturauftrag der ARD, jahrzehntelang ein Stützpfeiler einer
Medienpolitik, die Information, Bildung und Kultur als Einheit begriff
und damit so etwas wie einen aufklärerischen Erziehungsauftrag
verband.
Gisela Naucks aufschlussreiche Untersuchung mit dem etwas umständlichen
Titel „Risiko des kühnen Experiments. Der Rundfunk als
Impulsgeber und Mäzen“ liest sich aus dieser Sicht wie
ein Abgesang auf eine versunkene Epoche, als der Rundfunk noch ein
ernst zu nehmender Faktor des öffentlichen Kulturlebens war.
Seit die Popmoderne Einzug in die Chefetagen gehalten hat, verdreht
man dort bei einem Begriff wie „Kulturauftrag“ nur noch
genervt die Augen. Jeder Rundfunkobere definiert ihn nach Belieben
um und kann sich dabei problemlos auf den von den Kulturwissenschaften
bis ins Uferlose erweiterten Kulturbegriff berufen. Darunter fällt
dann bei der ARD schon das Quiz mit Jörg Pilawa, und der Hörfunkdirektor
des HR geniert sich nicht zu behaupten, man höre heute „in
allererster Linie Radio und nicht mehr Inhalte“ (vgl. Martin
Hufner: Öffentlich-rechtliche Medien unter Druck, nmz 5/05).
In den Augen der Medienmanager ist das Medium die Message, und Kultur
eine beliebig knetbare Füllmasse mit der Funktion, die Wiedererkennbarkeit
einer Sendestrecke zu gewährleisten. Immerhin: Gisela Naucks
Veröffentlichung ist in der SWR-Schriftenreihe „Grundlagen“
erschienen, und das bedeutet, dass hier eine Anstalt auch bei wachsendem
Banalisierungsdruck noch willens ist, einen Ansatz zu seriöser
Selbstreflexion zu leisten, auch wenn es sich nur um das Ausleuchten
einer Nische handelt.
Thema der Untersuchung ist die Förderung der Neuen Musik
durch den SWR in der Ära Heinrich Strobel, also von den ersten
Nachkriegsjahren bis um 1970; die vom SWR seit 1950 maßgeblich
getragenen Donaueschinger Musiktage bilden dabei einen Schwerpunkt.
Der Autorin standen die Archive der Musikabteilung offen; viele
der zitierten oder abgebildeten Dokumente sind hier erstmals veröffentlicht.
Man erhält einen instruktiven Einblick in den sensiblen Bereich
der künstlerischen Auftragsvergabe und in die oft mühseligen
Wege der Realisierung komplizierter Projekte.
Doch dokumentiert wird mehr als die Produktions- und Sendetätigkeit
eines Senders. Hinter dem planmäßigen Auf- und Ausbau
der Musikaktivitäten wird ein Stück Kulturpolitik in der
jungen Bundesrepublik sichtbar, angefangen von der Frühphase
des Wiederaufbaus und der Re-Education unter französischer
Aufsicht bis in die Zeit, da der damals noch Südwestfunk genannte
Sender zu einem internationalen Zentrum der Neuen Musik avanciert
war und Aufträge an zahllose Komponisten vergab. Ein Eldorado
der zeitgenössischen Musik, gleichsam offiziell verordnet und
großzügig finanziert. Und wie tönt es heute von
der SWR-Intendanz? „Der Rundfunk ist ein Sendeunternehmen
und kein Konzertveranstalter.“
Viel ist in dem materialreichen Buch vom Mäzenatentum des
Rundfunks die Rede. Der apologetisch benutzte Begriff erscheint
hier aber nicht ganz passend. Mäzenatentum ist eine freiwillige
Leistung, die nach Belieben erbracht und auch eingestellt werden
kann. Hier geht es jedoch um eine Verpflichtung, die, wie die Autorin
nachweist, juristisch zwar nicht eindeutig formuliert, aber im Informationsauftrag
enthalten und zumindest gewohnheitsrechtlich begründet ist.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk kann sich nicht einfach
aus der Verantwortung stehlen. Leider – das zeigt die aktuelle
Situation – tun es seine Oberen auf quasi legalem Weg, indem
sie den Kulturauftrag mit viel juristischer Spitzfindigkeit umdefinieren.
Dann fällt eben auch das Unterhaltungsgequatsche unter Kultur.
Gisela Naucks Buch schildert eine untergegangene Welt, in der
sich Kultur im Rundfunk nicht ständig legitimieren musste.
Sie war einfach da, wurde gemacht und rezipiert – sicher nicht
von der dummen Mehrheit, nach der sich heute alles richten zu müssen
meint, sondern von jenen qualifizierten Minderheiten, die nun von
vielen Rundfunkmachern als Störenfriede und potenzielle Gegner
betrachtet werden. Insofern ist die Lektüre dieses Buchs mehr
als ein Blick in eine Zeit, in der die Rundfunkwelt noch in Ordnung
war. Sie lehrt, was heute zu ändern ist.