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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 45
54. Jahrgang | Oktober
Bücher
Eine Maske für den großen Unbekannten
Eine soziologische Studie untersucht das Publikum Neuer Musik
Henriette
Zehme: Zeitgenössische Musik und ihr Publikum. Eine
soziologische Untersuchung im Rahmen der Dresdner Tage der zeitgenössischen
Musik (ZeitMusikSchriften. Hellerauer Beiträge zur zeitgenössischen
Musik Bd. 1), hrsg. von Marc Ernesti, ConBrio, Regensburg 2005,
227 S., € 14,80, ISBN 3-932581-51-2
Der typische Lachenmann-Hörer ist männlich, zumeist selbst
Komponist, Musiker oder Musikwissenschaftler, hat einen Hochschulabschluss,
stammt aus den alten Bundesländern, ist 43,9 Jahre alt, geht
oft und zumeist allein ins Konzert, beschäftigt sich seit 17,82
Jahren mit zeitgenössischer Musik, die er für innovativ
und für ein Mittel zur (Weiter-)Bildung hält und von allen
Musiksparten am meisten schätzt. Diese Schablone ergibt zumindest
eine neue Untersuchung über den großen Unbekannten des
Musikbetriebs: das Publikum, in diesem Fall speziell das Publikum
der 13. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik 1999.
Henriette Zehmes soziologische Studie füllt den ersten Band
einer neuen Schriftenreihe des Europäischen Zentrums der Künste
Hellerau (vormals Dresdner Zentrum für zeitgenössische
Musik), die sich zwischen „praxisbezogener Musikwirtschaftslehre“
und „musikwissenschaftlich fundierter Diskussion“ begreift
und sich neben Musik künftig auch anderen Kunstformen wie Tanz
und Architektur widmen möchte. Ziel der empirischen Arbeit
ist es, den Einfluss von Alter, Bildung, Milieu und Musikgeschmack
auf die Rezeption zeitgenössischer Musik zu ermitteln.
Eröffnet wird das Buch mit soziologischen Theoriebildungen
und einem schematischen Abriss der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts,
der viel Seminarwissen versammelt und den Ursprung der Publikation
in einer Magisterarbeit verrät. Den Hauptteil bildet die Auswertung
der in zahlreichen Tabellen und Diagrammen versammelten Daten aus
1.058 Fragebögen. Da sich sämtliche Ausgangs-Hypothesen
an allgemeinen Erwartungen orientieren und durch die Umfragewerte
allesamt bestätigt werden, will sich dabei kein wirklicher
Erkenntniswert einstellen. Was vorne hineingesteckt wird, kommt
hinten wieder heraus: Das Publikum der zeitgenössischen Musik
ist jünger als das der klassischen Musik, männlich dominiert,
musikalisch vorgebildet und auch sonst höher gebildet, überwiegend
der Hochkultur zugetan und hört im Gegensatz zur deutschen
Gesamtbevölkerung (47 Prozent) kaum Volksmusik (4,3 Prozent).
Um der Bandbreite der zeitgenössischen Musik zwischen „,komplexer‘
avantgardistischer“ und „,nicht-komplexer‘ minimalistischer“
Musik Rechnung zu tragen, werden die Umfrageergebnisse von zwei
Konzerten mit Musik von Helmut Lachenmann beziehungsweise der Band
von Michael Nyman gesondert ausgewertet. Danach war das Nyman-Publikum
jünger, bewertete zeitgenössische Musik schlechter, besuchte
weniger Konzerte, war weniger selbst musikalisch aktiv, hatte andere
Freizeitinteressen und war (gemessen an den verkauften Eintrittskarten)
24-mal größer als das Lachenmann-Publikum.
Die Ausdifferenzierung sämtlicher Umfrageergebnisse nach
Altersgruppen, Erst- (51 Prozent), Mehrfach- (33 Prozent) und Stammbesucher
(14 Prozent) der Musiktage, Anzahl der von ihnen besuchten Veranstaltungen,
ihrer Herkunft aus Dresden, Sachsen, den alten (12 Prozent) und
neuen Bundesländern (80 Prozent) und ihrer Zugehörigkeit
zum Niveau- (31 Prozent), Selbstverwirklichungs- (56 Prozent), Integrations-
(6 Prozent) und Unterhaltungsmilieu (7 Prozent) führt gemäß
Gerhard Schulzes Typologie der „Erlebnisgesellschaft“
(1993) häufig zu Redundanzen, kaum aber zu neuen Einsichten.
Allenfalls die Dresdner Veranstalter, vielleicht auch Organisatoren
anderer Musikfestivals, könnten aus der unterschiedlichen Resonanz
der Besucher auf verschiedene Informations- und Werbemaßnahmen
Schlüsse für die Optimierung ihrer Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
ziehen.
Als Hypothek erweist sich die simplifizierende Gegenüberstellung
von „traditionsüberwindenden“ und „traditionsgestützten“
Entwicklungen in der Neuen Musik, da der unreflektierte Traditionsbegriff
zu Fehlschlüssen führt. Statistische Umfragewerte mögen
belegen, dass die Rezeption zeitgenössischer Musik „in
höherem Maße als traditionelle Musik musikalische Bildung
(Kenntnis von Noten, Harmonielehre, Musiktheorie und Musikgeschichte)“
erfordert, die Sache selbst aber tut dies nicht, zumal die angeführte
musiktheoretische Bildung bei Neuer Musik oft nicht mehr greift.
Wie die meiste abendländische Kunstmusik seit dem ausgehenden
18. Jahrhundert richtet sich die Neue Musik an alle Musikinteressierten
und wird umgekehrt die ihrer vermeintlichen Breitenwirkung wegen
gegen die Neue Musik ausgespielte alte Musik heute von den meisten
Klassik-Hörern als verständlich missverstanden. Der Unterschied
zwischen Gewohnheit und Verstehen mag statisch irrelevant und schwer
zu fassen sein, ästhetisch ist er entscheidend.