Mit dem Slogan „Die weltweit größte Online-Bibliothek
der klassischen Musik“ wirbt die Naxos Music Library. Wo ein
PR-Slogan einmal stimmt, braucht man ihm nicht zu widersprechen.
Wer den Zugang zu dieser Bibliothek abonniert, erhält jederzeit
Online-Zugang zu über 75.000 einzelnen Tracks aus über
5.000 CDs aus den Bereichen Klassik, Jazz, Blues, Nostalgia, Weltmusik,
New Age und Chinesischer Musik (Naxos sitzt in Hongkong). Und das
Beste ist: Das Angebot wird ständig erweitert. Nicht nur der
vollständige Katalog der (hauseigenen) Labels Naxos, Marco
Polo und Da Capo findet sich immer komplett im Netz, es kommen ständig
neue Labels dazu. Jetzt schon kann man die Veröffentlichungen
von Celestial Harmonies, ARC, PentaTone, Gimell, Artek, BIS, CBC,
First Edition, Hänssler, Trust Records und Analekta hören.
Betrachten wir einige Bereiche näher: Die Qualität an
außereuropäischer Musik ist vor allem dank des Kataloges
der Firma Celestial Harmonies als exzellent zu bezeichnen, obgleich
die Auswahl nicht umfassend ist: Asien-Liebhaber finden viele Leckerbissen,
etwa die Alben der herausragenden Produktion „The Music of
Islam“. Für Freunde afrikanischer oder lateinamerikanischer
Musik ist noch wenig dabei. Das Jazzprogramm ist hervorragend, jedoch
einseitig. Wer sich für Jazz der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts interessiert, wird durch die Alben der Serie Naxos
Jazz Legends gut bedient. Mit etwa 130 Alben ist die Serie noch
klein, aber fein. Von Armstrong bis Young – die meisten der
bekanntesten Stars sind mit gut ausgewählten Aufnahmen vertreten.
Die Auswahl an zeitgenössischem Jazz ist noch kleiner und nicht
für die letzten 50 Jahre repräsentativ, doch es lassen
sich erfreuliche Entdeckungen machen.
Kommen wir zum Kernstück dieser wahrhaft universellen Musik-Bibliothek:
die Klassik. Zahlen geben keine Vorstellung von der Fülle,
eher Komponisten-Namen. Johann Sebastian Bach ist mit seinem Gesamtwerk
vertreten. Einige seiner Werke sind in verschiedenen Interpretationen
vorhanden. Max Reger findet sich mit etwa 90 Tracks (Stücken/Sätzen).
Selbst der viel zu wenig beachtete Charles Koechlin ist mit 17 Opus-Nummern
vertreten. Praktisch alle Standardwerke der bekannteren Komponisten
sind vorhanden. Interessanter freilich ist das Vorhandensein einer
enormen Fülle von Raritäten. Man vermisst kaum einen großen
Namen unter den Komponisten. Fehlt auch mancher Interpret der Gegenwart,
der bei anderen Plattenfirmen unter Vertrag ist, so findet man unter
den großen Solisten der Vergangenheit die meisten Giganten.
Jedes Label trägt neue Schwerpunkte bei, etwa Gimell die
Renaissance, Trust Records die hier so gut wie unbekannte Musik
Neuseelands. Wie der Musikfreund schon den Namen der Plattenmarken
entnehmen kann, sind einige Gebiete sehr umfassend vertreten. So
dürfte es unmöglich sein, dass man sich irgendwo umfassender
über dänische Komponisten informieren kann als hier, wo
der Katalog von Da Capo zur Verfügung steht: Rund 1.400 Tracks
dänischer Komponisten! Enzyklopädisch ist auch der Anspruch
typischer Naxos-Serien wie „Amerikanische Klassik“ oder
„Sinfonie des 18. Jahrhunderts“. Auch die Booklets vieler,
leider noch nicht aller CDs kann man nachlesen. Darüber hinaus
gibt es auch eine Abteilung mit Texten (Opernlibretti, Glossar und
so weiter).
Leider hat die wunderbare Naxos Music Library auch einen kleinen
Wermutstropfen: die Suchmaschine. Man kann die Sammlung auf drei
verschiedene Weisen „durchbrowsen“ und findet mit einiger
Übung auf diese Weise auch ziemlich leicht das Gewünschte.
Problematisch wird es bei Verwendung der „Advanced Search“,
die uns gezieltes Suchen manchmal eher erschwert als erleichtert.
Gibt man etwa Rimsky-Korsakov als „Rimskij-Korsakow“
ein, erhält man „Sorry no Record found“. Man muss
schon das alphabetische Verzeichnis durchgehen, um das Gewünschte
zu finden. Dabei bräuchte man die Hilfe der Suchmaschine gerade
dann, wenn man unsicher ist. Man muss schon wissen, ob man das „Unicorn
Ensemble“ oder das nicht existente „Ensemble Unicorn“
sucht, sonst findet man die trefflichen Wiener Spezialisten für
Alte Musik nicht. Eine einfache Suche wie bei Google, für das
ein Namendreher oder ein vertippter Name kein Problem darstellt,
gibt es leider nicht! Eine etwas intelligentere Software würde
bei so manchem Problem des Bedienungskomforts helfen. Wer eine CD
hört, darf nicht den Fehler begehen, beim Browsen auf den Link
zu einer anderen CD zu klicken. Sofort wird dann die Wiedergabe
beendet. Dabei ist das Anklicken der anderen CD unerlässlich,
wenn man sich näher über den Inhalt informieren will.
Natürlich sind einige Suchfunktionen unschlagbar. So kann ich
mir italienische Kompositionen zwischen 1900 und 1905 heraussuchen
lassen, Klaviermusik der Romantik oder alle Stücke mit „Maria“
im Titel, die in Deutschland zwischen 1800 und 1900 komponiert wurden.
Die Resultate kann ich in eigenen Playlists speichern, die im Unterricht
Verwendung finden könnten.
Als Zielpublikum hat Naxos freilich weniger den Privatkunden im
Auge, den man ja auch in Zukunft als CD-Käufer behalten möchte,
als vielmehr Institutionen: Bibliotheken, Musikausbildungsstätten
und Kulturzentren und ähnliche Einrichtungen können damit
nicht nur Zeit, kostbaren Regalplatz und Geld sparen. Womit wir
bei den Kosten wären. Dazu erklärt Christoph Hüsing,
bei Naxos für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich:
„Die NML-Nutzungsgebühren sind gestaffelt, entscheidend
ist dabei die Zahl der jeweiligen Anwender im Rahmen eines Vertrages.
Bei einem Paket von fünf Lizenzen fallen pro Arbeitsplatz Jahresgebühren
in Höhe von 150 Euro an – ein echtes Schnäppchen,
wenn man bedenkt, dass ja auf mehrere tausend CD-Einspielungen zurückgegriffen
werden kann.“
Auch die Naxos Spoken Word Library, eine Hörbuchsammlung
von Aesop bis Yeats, ist für Musikfreunde potenziell interessant.
Hier finden sich gesprochene Musikerbiografien und Werk-Einführungen.
Allerdings stehen bislang nur englischsprachige Alben zur Verfügung.
Über die Aufnahme deutschsprachiger Titel wurde schon intern
diskutiert.
Wer sich eingehender mit Jazz befassen will, findet in der erst
im August eröffneten Naxos Music Library Jazz weit mehr als
in der Naxos Music Library. Hier sind erst rund 1500 Alben zu hören,
doch sie haben es in sich, handelt es sich um einen Großteil
des Fantasy-Programmes, also Alben von für die Jazzgeschichte
so essenziellen Labels wie Riverside, Prestige, Contemporary, Pablo,
Debut, Milestone und Galaxy. Dadurch sind Größen wie
Thelonious Monk, Cannonball Adderley, das Modern Jazz Quartet, Stan
Getz, Miles Davis, Chet Baker, Oscar Peterson, Ella Fitzgerald,
John Coltrane, Art Tatum mit vielen herausragenden Alben vertreten.
Bei einigen Künstlern wie Sonny Rollins, Bill Evans oder Art
Pepper ist die Auswahl geradezu unerschöpflich. Mit anderen
Worten: Später Bebop, Cool Jazz, West Coast Jazz, Hardbop,
Mainstream sind in bestmöglicher Weise repräsentiert.
Freunde von Oldtime Jazz, Swing, Free Jazz, Jazzrock, Blues und
zeitgenössischen Strömungen kommen weniger auf ihre Kosten.
Doch das kann schon morgen anders werden, wenn andere Labels sich
anschließen. In der Präsentation der Alben steckt die
Naxos Library Jazz noch in den Kinderschuhen. Hört man sich
ein Album an, erfährt man nur den Plattentitel, die Titel der
Stücke und den Namen des Musikers oder der Band. Doch was hilft
die Info „Max Roach Quartet“, wenn man nicht weiß,
wer die Mitglieder sind, wann die Aufnahmen entstanden oder wer
die Stücke schrieb.
llerdings sollen die Book-let-Texte noch eingestellt werden. Auch
die Advanced Search ist hier nicht hilfreich. Gebe ich etwa „Max
Roach“ in die Maske ein, erscheinen nur seine Alben als Leader,
nicht aber die Alben als Sideman. Kurios ist auch die Tatsache,
dass die Musiker alphabetisch nach Vornamen, nicht nach Nachnamen
sortiert sind. Könnte man die Sammlung auch nach Sidemen, Aufnahmedaten,
Aufnahmeorten, Komponisten und ähnlichen Kriterien durchforsten,
wäre „Advanced Search“ ein großartiges Instrument.
Trotzdem lässt sich viel damit machen. Man denke nur an die
für Jazz-Pädagogen und -Studenten interessante Möglichkeit,
Playlists mit verschiedenen Interpretationen des gleichen Standards
zusammenzustellen.
Trotz der nicht ganz ausgereiften Suchfunktionen: Für jeden,
der sich mit Musik beschäftigt, sind diese Bibliotheken unschlagbare
Archive, die jetzt schon so umfassend sind, dass sie wissensdurstige
Musikhungrige ein Leben lang beschäftigen könnten.