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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 42
54. Jahrgang | Oktober
Rezensionen
Alte Haudegen, kein Wiesenhit, eine Kanzlerin
Neue Popplatten im Herbst des Wechsels
Der Oktober öffnet sich: Element of Crime sind zurück,
Franz Ferdinand müssen sich beweisen, die Beta Band gibt alles
vom Besten oder der deutsche Sinatra Tom Gäbel, der sich selbst
vorstellt. Alle Genres sind vertreten, niemand wird verschont. Vorher
noch der aktuelle Klatsch der Popwelt: Alben werden künftig
am Freitag veröffentlicht und nicht mehr am Montag. Dafür
lässt sich Gerd Gebhard feiern. Dann sorgt der russische MP3-Anbieter
www.allofmp3.com mit Durchschnittspreisen von 1,50 US-Dollar pro
Album für Murren in der internationalen Phonoindustrie. Und
dass die Popkomm stattfand, sollte man als Randnotiz ebenso festhalten
wie die Tatsache, dass das Oktoberfest ohne Wiesenhit auskommen
muss.
Danken wir zunächst der Band Element of Crime mit ihrem Vorsänger
Sven Regener (Buchautor des Klassikers „Herr Lehmann“).
„Mittelpunkt der Welt“ nennt sich das neue Album unbescheiden,
ist es wohl aber. Höchste Melancholie, zelebrierte Beiläufigkeit
und eine finale Leichtigkeit, die jeden Song zu einem Herzflimmern
macht. Schön, unbestechlich und voller Geschichten, die uns
betroffen machen und lachen lassen. Famous. Die Feuilleton-Rocker
Franz Ferdinand haben mit dem zweiten Album „You could have
it so much better“ das Problem, nicht den Fans gefallen zu
dürfen, sondern den Kritikern der New York Times, der SZ oder
der London Times. Die werden über das Wohl der Band entscheiden,
wobei die Vorlage keine überraschende scheint. Man blieb sich
treu, eiert ein wenig auf den Meriten des ersten Albums herum und
vergisst sich ein wenig in Rockschönklang oder konstruierter
Retrokunst. Durchaus gefällig, nie pomadig aber ein wenig stillstehend
insgesamt doch. Ray Charles wäre am 23. September 75 Jahre
geworden. Als erinnernde Hommage wurde „Genius & Friends“
veröffentlicht, eine Platte, die sich mit den wichtigsten Duetts
seiner Laufbahn beschäftigt, darunter neu aufgenommene, bisher
ungehörte Kompositionen. Mitsingend unter anderem: Alicia Keys,
George Michael, Diana Ross, Gladys Knight oder Willie Nelson. Ehrlich
und zeitlos.
Sänger Tom Gäbel stellt sich als alter Hase vor, obwohl
„Introducing: Myself“ sein Debutalbum ist. Assistiert
von einer kompletten Big Band, dazu die große Streicherbesetzung,
führt er uns einmal durch Neuauflagen weltbekannter Jazzklassiker
und zum anderen durch gefühlvolle und selbstbewusste Eigenkompositionen.
Besinnliche und sensible Minuten sind diesem unaufdringlichen Album
gewiss. Derzeit kommt es oft unüberlegt in Mode, Bands nach
gelungenen Alben das Karriere-Ende nahe zu legen, weil es besser
wohl nicht mehr ginge. So gilt es wohl auch bei Arab Strap einzustimmen.
„The Last Romance“ trifft den Kern der Aussage sensationell.
Rockromantik zwischen Betongitarren, zitierten Texten, Gedichten
ähnlich, Botschaften gleich und Visionen vermittelnd. Gefolgt
von Windmühlen artigen Beats, dazu leise Gitarren und zarte
Elektronik; Arab Strap sind Meister des zeitgemäßen Rock.
Wer sich für Snow Patrol erwärmen kann, dem werden die
Pioniere dieser alternativen Rockkunst erst recht zur Nase stehen.
The Beta Band und ihr „The Best of the Beta Band“-Doppelalbum
rührt zu Tränen. Einmal weil es die offizielle Gewissheit
ist, dass es diese Band nie mehr geben wird, und zum anderen weil
die CD erbarmungslos vor Augen führt, was man an dieser Band
aus Edinburg verloren hat. Zu hören ist auf der ersten CD das
Beste ihrer vier Studioalben, auf der zweiten ein Livemitschnitt
der Abschiedstour 2004. Beide CDs sind Emotionshaufen und Gefühlshöllen.
So wie The Beta Band, deren Musik Stars wie Oasis oder Radiohead
bis heute inspiriert, mit ihren Höhen und Tiefen seit dem Debutalbum
1997 eben war. Unberechenbar emotional.
PJDS nennt sich ausgeschrieben Pieter-Jan de Smet. Zusammen mit
Kollege Geoffrey Burton erfreut der Belgier seit Jahren mit unerschrockenen
Veröffentlichungen zwischen Rockkompositionen und Songwriterbandsongs.
„Suits you“ gerät dieses Mal etwas futuristischer
als sonst, PJDS neigt sich ein wenig der avantgardistischen Front
zu, vergisst aber über diese kurzen Momente nie, der Rockmusik
weiter zu frönen. Rockmusik, die anders klingt, nach Pieter-Jan
de Smet und seiner Vision von Gitarrenmusik. Mit sämtlichem
Getöse zum Deutschpop oder Frolleinrock hatte muff potter nie
zu tun. Ihre fünfte Platte „Von Wegen“ stellt die
Band im Jahr 2005 vor. Unkonventionell, weit weg von Marketing-Strategien
und in puncto Text nicht allzu überbewertend. Eine Mischung
aus altem Kettcar-Rock, vereinzelten NDW-Ausleihen und einer markigen
muff-potter-Punkportion verhilft ihr zu einem Alleinstellungsmerkmal
in der Unmenge an Deutschtext-Veröffentlichungen. Prima. Aus
dem Nest Stillwater in Oklahoma (USA) machen sich The All-American
Rejects und die Platte „Move Along“ über den großen
Teich auf, Europa zu beeindrucken. Gelingt mit beherzten Songs,
ironisch-romantischen Kompositionen und der über der Band schwebenden
Aussage „Musik mitunter als Spaß zu sehen“. Emo-Punk,
also gemäßigter Alternativpunk mit hymnischen Refrains
und in den Strophen breiten Gitarren bilden das Grundgerüst
der Band, ein paar elektronische Schmankerl und Streicher-Alarm
versüßen den Emo-Kuchen erheblich. Eine junge Band, der
man einiges zutrauen sollte.
Sven Ferchow
Diskographie
Element of Crime: Mittelpunkt Der Welt (Universal,
4.10.2005) Franz Ferdinand: You could have it so much better
(Domino, 30.9.2005) Ray Charles: Genius & Friends (WSM, 23.9.2005) Tom Gäbel: Introducing: Myself (Edel Records,
14.10.2005) Arab Strap: The Last Romance (Chemikal Underground
Records, 28.10.2005) The Beta Band: The Best of The Beta Band (Labels,
4.10.2005) PJDS: Suits You (Beuzak Records, 21.10.2005) muff potter: Von Wegen (Huck’s Plattenkiste,
4.10.2005) The All-American Rejects: Move Along (Interscope,
10.10.2005)