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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 12
54. Jahrgang | Oktober
Semmelmann
Fiese Tage
Es gibt Tage, da stehe ich morgens auf und denke: „Uiuiui,
das wird heute ein rechter Scheißtag.“ Dieses Schicksal
liegt wie ein Geruch in der Luft. Man kann es zwar nicht mit den
Fingern greifen, aber wenn diese Finger dann einen Schnürsenkel
zum Reißen bringen oder in der Küche die Milchtüte
umkippt und ich fluchend die ganze Sauerei wegmachen muss, dann
weiß ich mit absoluter Sicherheit: „Uiuiui, das wird
heute ein rechter Scheißtag.“ Viele, viele Jahre habe
ich gebraucht um herauszubekommen, wie man sich durch solch einen
fiesen Tag schlängeln muss, um abends unbeschadet im Bette
zu landen und sagen zu können: Siehste, Redunzl, hat doch wieder
funktioniert. Für mich gibt es nur einen einzigen therapeutischen
Ansatz für dieses Phänomen, und der heißt zumindest
bei mir Konsum. Ich rede hier allerdings nicht vom völlig unspektakulären
Besuch eines Supermarktes oder vom Besohlen eines Paares Schuhe
durch den türkischen Schuhmacher, der komischerweise immer
Mr. Minit heißt. Das funktioniert nicht. Ich rede von Aktionen,
deren Investitionsvolumen die Leute, die am Geldautomat hinter mir
stehen, vor Neid erblassen lässt. Will sagen, deren Investitionsvolumen
meinen Kontostand auf eine harte Probe stellt. Das ist die erste
Bedingung der Therapie. Die zweite betrifft die Verfügbarkeit
des Investitionsziels, denn die muss völlig im Dunklen liegen.
Als mich das letzte Mal so ein Schnürsenkel- und Milchtüten-Tag
in seinen erbarmungslosen Klauen hatte, holte ich zu einem Schlag
aus, von dem sich dieses widerliche Phänomen bis heute noch
nicht erholt hat. Aufmüpfig spuckte ich dem Tag die folgenden
Worte in seine widerliche Fratze: So, Freundchen. Heute kaufe ich
mir einen neuen Plattenspieler. Im Fundament unseres Hauses verspürte
ich in diesem Moment ein ganz deutliches, wenn auch nur leichtes
Zittern. Haben Sie, werter Leser, in Zeiten von MP3-Playern und
HDTV-Fernsehen schon mal versucht einen Plattenspieler zu kaufen?
Aber bitte nicht solche Bettnässer-Aktionen wie „Über
das Internet bestellen“, sondern mit Bargeld das Haus verlassen,
selbstbewusst einen geeigneten Laden betreten, Plattenspieler aussuchen,
Plattenspieler bezahlen, Plattenspieler haben, Haus ohne Bargeld
wieder betreten. Vor meinem geistigen Auge wanderte ich durch diverse
Läden, doch die anschließende telefonische und internetsche
Suche blieb erfolglos. Bei der „Kaufen! Marsch, Marsch!-Marktkette“
hatte ich gar einen jungen Mann aus den neuen Bundesländern
an der Strippe, der offensichtlich nicht einmal wusste, was ein
Plattenspieler ist. In unserer Landeshauptstadt würde es bestimmt
ein oder zwei Läden geben, in denen man Plattenspieler bekommt.
Allerdings nur im Gegenwert mehrerer Monatsgehälter. Solche
Läden heißen sehr gern „Die Rille“ oder raffiniert
zweideutig „33–45“.
Doch so was kann ich mir Gott sei Dank nicht leisten und wer fährt
schon freiwillig nach Stuttgart? Aber ehrlich. Ich begann, wenn
auch angestrengt, logisch zu denken: Wer braucht heute noch Plattenspieler?
Na klar – Diskjockeys. Diehtschees. Und wo kaufen Diehtschees
ihre Plattenspieler, ihr Equipment? Und bei dem Wort Equipment schnackselte
es bei mir: Plattenspieler gibt es beim Professional-Music-Equipment-Händler.
Und nur circa vier Kilometer Luftlinie von meinem Haus entfernt
gibt es einen Professional-Music-Equipment-Händler. Kurze Zeit
später war ich stolzer Besitzer eines funkelnagelneuen STANTON
T.60. Ein sehr hipper und stylischer Plattenspieler (passt also
zu mir), ohne Automatik-Schnickschnack, aber mit erstaunlich niedrigem
Preis.
Um diesem Schnürsenkel- und Milchtüten-Bastardtag den
Rest zu geben, kamen für die Einweihung meines schnuckeligen
STANTON nur eine einzige Schallplatte und ein einziges Lied in Frage.
Als das Intro dieses ersten Songs auf der A-Seite mit voller Lautstärke
ertönte, spürte ich wieder das Zittern und Ächzen
in den Wänden und wusste „Jaaaaaaa, ich habe gesiegt“.
Die Platte war übrigens Beggars Banquet von den Rolling Stones.
Wie das Lied heißt?