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nmz-archiv
nmz 2005/10 | Seite 34
54. Jahrgang | Oktober
ver.die
Fachgruppe Musik
Schweriner Festspiel-Rausch mit Folgen
Verdis „Rigoletto“: Stadtwerbung und das Problem
künstlerischer Gastarbeiter
Kein Freilichtspektakel, sondern Oper, Freilichtoper in Schwerin,
anderthalb Monate jeden Abend das gleiche Spiel: die größten
Opern-Open-Air-Festspiele Deutschlands. In diesem Sommer mit „Rigoletto“,
die sechste Produktion. Die Internet-Seite der Landeshauptstadt
winkt mit einem Verona-Vergleich: „Im größten Festspielmagazin
Europas (welches das ist, bleibt in der Stadtwerbung offen) rangierten
die ‚Schlossfestspiele Schwerin‘ 2003 im internationalen
Vergleich erstmals auf Platz sieben“ mit international bekannten
Solisten, großen Chören und der traditionsreichen Mecklenburgischen
Staatskapelle Schwerin (abermals Stadtwerbung). Die Werbung für
die von Arbeitslosigkeit und Kulturabbau gezeichnete Stadt greift.
Touristen werden wieder busladungsweise anreisen und inmitten des
„unübertroffenen Architektur-Ensembles“ sitzen
(Stadtwerbung). Die Kulturwerbung zieht seit Jahren auch in Polen:
Von dort holt sich das Schweriner Theater die Sänger, die das
Markenzeichen der „großen Chöre“ (Stadtwerbung)
erst sicht- und hörbar machen. Das hauseigene Chorpersonal
wurde nämlich um rund ein Drittel reduziert, worüber die
Stadtwerbung schweigt.
Derweil läuft die Probe auf Hochtouren. Unter Sonnenschirm
eins der Regisseur samt Regietisch, aufgebaut in der Mitte von Zuschauerreihe
12. Mittig vor der ersten Reihe Sonnenschirm zwei, darunter mit
Pult der Dirigent. Links von ihm unter Zeltplane am Klavier der
Pianist. Unbeschattet, weil ohne festen Standort, die Dolmetscherin.
Ohne Sonnenschutz auch die 50 Chorsänger auf der Bühne,
darunter 35 Polen. Die anderen 15 sind Deutsche, die festangestellten
Herren des Theater-Chors.
Seit der zweiten Freilichtopernproduktion Nabucco im Jahr 2001
stocken Polen den Theater-Chor nicht nur auf, sondern stellen wie
in diesem Jahr in Rigoletto mehr als zwei Drittel der Mannschaft.
Die Unbeschattete, Elzbieta Rachwal, eilt in drückender Hitze
zwischen Sonnenschirm eins und zwei hin und her, zwölf Zuschauerreihen
hinauf und wieder hinab bis auf die Bühne zu den polnischen
Sängern. Zwecks dolmetschen. Sie, die Polin, ehemals Mezzosopranistin,
erst fest an polnischen Bühnen und in Leningrad, dann freischaffend
in Deutschland, so auch mal in Schwerin, schlug dem Schweriner Theater
die polnische Chorverstärkung vor. Von „schöner,
nun schon fünfjähriger Tradition“ sprechen die einen,
von „daraus erwachsener Mehrarbeit und längeren Probenzeiten“
klagen andere, von „Dumpingpreisen und Tarifdrückern“
mutmaßen Dritte. Probleme, Konflikte?!
Auf der Ebene der Leitung werden keine gesehen, im Gegenteil,
so der Leiter des Theaters, Joachim Kümmritz: „Wir brauchen
uns nicht zu kümmern, sie organisiert das perfekt“, berichtet
er von Frau Rachwal, die eine Vermittlungsagentur, das „Impresariat
Rachwal“ mit Sitz in Gdynia gründete. Das Schweriner
Theater würde die Organisation von 35 ausgebildeten Zusatzsängern
en bloc für die Dauer von zweieinhalb Monaten, Proben und Aufführungen
inbegriffen, schwerlich packen. Sie packen schon anderes: „Die
Freilichtopern laufen parallel zu unserem normalen Spielplan. Wir
spielen vom 1. August bis 31. Juli durch. Das muss erst mal organisiert
sein einschließlich Urlaub für alle Mitarbeiter. Diese
Opern machen wir also zusätzlich.“ Dazu muss jeden Sommer
neu alles wieder aufgebaut werden, von der Toilette, den Zuschauertraversen
bis zu den Beleuchtungs- und Tonanlagen: „Mit unseren eigenen
Leuten. Das ist ein weiterer Kraftakt.“
In Schwerins Mitte ähnelt der Platz zwischen Theater, Museum
und Schloss, einzigartige Kulisse für Opernaufführungen,
einem Amphitheater, hineingestellt in den Straßenverkehr.
Wie die Proben neigen auch die Aufbauarbeiten dem Ende zu. Neben
der Plane überm Klavier reckt ein Kran seinen Arm und legt
Planken zum Podest zusammen, dem künftigen Orchesterplatz.
Schwenkt er herum, versperrt er der Regie die Sicht. Bühnenarbeiter
knüpfen letzte Strippen. Sänger singen gegen den Lärm
an. Frau Rachwal übersetzt.
„Eine tolle Dolmetscherin“, betont Peter Marschik,
der musikalische Leiter des Rigoletto. Auch er sieht keine Probleme:
„Wenn ich was vom Chor will, in erster Linie sind das Fragen
der Tempi, geht das über sie. Aber ich brauch mich nicht an
sie zu wenden, sie hört sowieso mit, und in dem Moment, wo
sie merkt, dass ich mich an den Chor richte, steht sie bereit, automatisch.“
Elzbieta Rachwals Aufmerksamkeit ist ungebrochen, an sie eine Frage
zu richten, ist fast unmöglich. Zum Antworten hat Agata Rachwal
Zeit, ihre Tochter, seit Abschluss des Jurastudiums als zweite Person
im „Impresariat Rachwal" tätig, für ihrer Ausbildung
entsprechende Aufgaben. Für die Kunst sorgt allein Mutter Elzbieta
Rachwal: sie sucht die Sänger zusammen, lässt sich vorsingen,
wählt aus und beauftragt die Auserwählten mit dem individuellen
Studium der Chorpartitur. „Exzellente Sänger“,
wiederholt Agata mehrmals, „eigentlich sind die meisten Solisten
und keine Choristen. Absolute Spitzenkräfte.“ Sind die
denn dann mit der Entlohnung als Choristen zufrieden? Darauf keine
Antwort, stattdessen fährt sie fort: „Danach organisieren
wir für die Sänger zwei gemeinsame Proben in Städten,
in deren Nähe der Großteil von ihnen wohnt.“ So
fand eine Rigoletto-Probe im Süden und die andere im Norden
Polens statt, in für die Proben gemieteten Sälen und unter
Elzbietas Leitung. Sie meldet anschließend den Vollzug der
Einstudierung nach Schwerin. „Und ich reise in Polen an, für
eine Probe“, erzählt der Chordirektor Michael Junge.
Auch hier alles problemlos: In dieser Probe kann Junge eine Feinauslese
treffen. Sein Auswahlprinzip ist nicht nur die Gesangsleistung,
er beurteilt auch das Spielvermögen. „Oper ist geformte
Absicht. Der Chor darf sich nicht hinstellen, als ginge es um einen
Madrigalgesang. Er muss Szenen darstellen.“ Er ist mit Frau
Rachwals Sängern zufrieden. Noch zufriedener ist er mit der
Probendisziplin: „Sechs Stunden hintereinander arbeite ich
mit ihnen. Das würde hier keiner machen.“ Hier in Schwerin
achten die festangestellten Choristen auf die laut Tarifvertrag
festgelegten Probenzeiten. Michael Junge hat zuvor mit den 15 Herren
des Theater-Chores den Rigoletto von der ersten Verständigungsprobe
an einstudiert, sozusagen von Null bis zu dem Stand, an dem die
polnischen Herren dazukommen, und die Proben nun als Groß-Chor
weitergehen.
Aber weiter nach hiesigem Arbeitsrecht! Probleme? „Absprachen
mit uns sind unumgänglich, wenn längere und mehr Proben
nötig sind.“ Reinhard Strey spricht als Nicht-Leiter,
er ist einer der deutschen Chorherren, der Chorvorstand, und muss
Konflikte verhindern helfen. Zwar hatte Chorleiter Junge mit den
Polen bis zu diesem Zeitpunkt keine Arbeit, sondern nur mit den
Deutschen, „aber jetzt werden Mehrproben wegen der polnischen
Kollegen unumgänglich.“ Da geht es um die Angleichung
beider Chorteile, es geht um Phrasierungen und um die Aussprache.
„Statt ‚âme-ssa‘ klingt es immer wieder
wie ‚âmes-sa‘. Wenn von 50 Sängern 35 diesen
S-Fehler machen, dann ist der Text verdorben.“ Also noch einmal
probiert und noch einmal erklärt. Selbst wenn das Dolmetschen
perfekt klappt, „das dauert einfach. Man braucht Zeit“.
Außerdem haben die 15 Schweriner Choristen schon szenisch
vorgeprobt, das müssen die 35 Neuankömmlinge aufholen.
Deshalb Mehrproben, deshalb Absprachen. „Wir einigen uns immer,
es gibt kein Gegeneinander mit der Leitung. Aber schief angeguckt
werden wir doch.“ Aber schief gucken auch die deutschen Sänger,
wenn dann zwischen den Rigoletto-Proben die polnischen Kollegen
noch Extra-Proben für die geplante konzertante Aufführung
von Ödipus Rex einschieben.
„Die sind hochmotiviert“, Ines B., auch Mitglied des
Theater-Chores, versteht: „Für sie hängt zu viel
dran.“ Nicht nur das Engagement, auch die Bezahlung. „Wir
wissen nicht, für wieviel sie arbeiten.“ Für Dumpingpreise?
Theaterleiter Kümmritz weist das zurück: „Alles
läuft korrekt, immer übers Arbeitsamt.“ Die Mitarbeiter
der Regionaldirektion Nord in Kiel bestätigen: Aufenthalts-
und Arbeitsgenehmigungen laufen über ihr Amt. Das bedeutet:
„Vergleichbare deutsche Monatslöhne.“ Zuzüglich
zahlt ihnen das Theater, und das weiß nun jeder, die Fahrt
Polen-Schwerin-Polen, die Unterkunft in Schwerin und die Kost in
der Kantine, sogar die Straßenbahnkarten. Das wäre das
Gegenteil von Dumpingpreisen. Kümmritz: „Sie haben viel
höhere Kosten, als jemand, der hier lebt. Also unterstützen
wir sie, sie sollen gern kommen.“
Kommen sie denn nicht gern, dankbar gar fürs Engagement?
Aber sicher, keiner zweifelt daran. „Außerdem, wenn
die Probenzeit vorbei ist, abends nur die Vorstellungen laufen,
dann ist das für unsere polnischen Gäste wie Urlaub mit
positivem Nebeneffekt. Man sieht sie beim Shopping, am Schweriner
See, sie wohnen ja auch wie die Touristen in Pensionen“, erzählt
die Pressevertreterin des Theaters. Agata Rachwal allerdings berichtet
anderes: „Es ist überhaupt nicht so einfach, Sänger
fürs Ausland zu gewinnen, speziell für Deutschland. Es
gibt Vorbehalte, auch wenn die langsam abnehmen. Außerdem
sind zwei Monate Trennung von der Familie hart, Frauen lassen sich
noch weniger darauf ein.“
Nur zehn, zwölf Polen kommen immer wieder, sind bei jeder
Inszenierung dabei. Sie werden von den Schweriner Theaterleuten
wie alte Bekannte per Umarmung begrüßt. Zur Mehrheit
der Gastkollegen gibt es wenig Kontakte. „Es sind zu viele
und zu viele Neue. Das ist ganz normal.“ Ines B. erinnert
sich an die Nabucco-Inszenierung, als zum ersten Mal Polen dazukamen,
das waren nur 16 Personen. „Die wurden zur Szenenerarbeitung
Deutschen zugeteilt, immer in kleinen Gruppen. Das ergab automatisch
ein herzliches Verhältnis. Man hatte damals allerdings das
Gefühl, dass das nicht so gewollt war.“ Wie auch immer,
von diesem Gefühl ist nichts geblieben. Auch die kollegialen
Zuteilungen sind entfallen. In der aktuellen Inszenierung agieren
größere Gruppen nur deutscher und nur polnischer Sänger.
Sonne über Bild sechs, Takt fünfzig. Polnische Sänger
nehmen ihre Plätze ein. Durchlauf: Zwölf deutsche kommen
auf die Bühne, überqueren sie bis zum Brunnen und nehmen
dort ihre Position ein. Arie Rigoletto und Positionswechsel der
Deutschen. Regie: „Zu früh! Alle deutschen Herren noch
einmal zum Brunnen! Erst auf vorletztem Ton weggehen!“ Wiederholung
und weiter im Takt: fünf Polen betreten die Szene von der Treppe
herab, sieben von der linken und ein Dutzend von der rechten Seite.
Alle 35 sind jetzt auf der Bühne, der Groß-Chor ist vollständig.
Und vollstimmig der Gesang. Reinhard Strey: „Es ist ein Ansporn,
zusammen zu singen, der größere Klang beflügelt.“
Mittagspause.
Ein Gespräch mit polnischen Sängern nach der Mahlzeit
ist verabredet. Elzbieta Rachwal, nun auch in Pausenstimmung, will
Gesprächspartner vermitteln. Der Termin ist da – und
alle Polen außer Haus, 35 Herren samt beider Damen des „Impresariats
Rachwal“. Sang- und klanglos. Es gab Protest. Warum? Weil
das Interview mit Tochter Agata angeblich auch eine Frage nach dem
Honorar für die polnischen Sänger enthielt! (Tatsächlich
enthielt es nur die unbeantwortet gebliebene Frage nach den Choristen-Gagen
für die angeblichen Solisten. Siehe oben.)
eshalb der demonstrative Rückzug?
Deshalb treten sie zu fünfunddreißigst in Reih und Glied
ab? Gibt es doch was zu verbergen? „Frau Impresaria hält
ihre Schäfchen zusammen,“ oder: „Sie weiß,
wie sie ihre Jungs ansprechen muss“, heißt es an den
Kantinentischen. Von „Betreuung“ hatte Agata Rachwal
erzählt: „Unsere Sänger werden immer von uns vor
Ort betreut.“ Ist das eine elegante Umschreibung? Sprichwörtlich
ist ein Fall von Entlassung nach übermäßigem Trinken
bei einer Theaterfeier. „Da gibt es bei Rachwals wohl kein
Pardon.“
Vermutungen. Die Betroffenen müssten selber berichten! Aber
sie sind weg. O.K., bleiben wir eben bei den „deutschen“
Problemfeldern. Warum werden Polen engagiert, wo doch in Deutschland
abgebaute und nichtengagierte Sänger herumtingeln? Der Schweriner
Theater-Chor hatte einstmals 44, heute 28 Mitglieder. Theaterleiter
Kümmritz: „Wir haben es versucht. Für zehn lange
Wochen kriegt man nicht die entlassenen Sänger aus Magdeburg,
aus Wuppertal oder sonst woher zusammen. Wir brauchten 35 Personen,
letztes Jahr sogar 55. Irgendwie haben sie alle Verpflichtungen.
Wenn das anders wäre, würde die Agentur für Arbeit
nicht mitspielen.“
Die Mitarbeiter bestätigen: Bevor sie genehmigen, findet
über ihren Künstlerdienst eine Arbeitsmarktprüfung
statt. Aber die Polen, haben sie keine Verpflichtungen? Sie haben
locker zehn Wochen Zeit? Darüber hat Kümmritz noch nicht
nachgedacht. "Ich freue mich, dass wir sie haben, und dass
die Opern-Inszenierungen so gut ankommen."
Fünfzigtausend Zuschauer werden erwartet. Das war der jährliche
Durchschnitt. Nabucco zog zweiundsiebzigtausend an. Fünfzig
Prozent des Publikums kommt nicht aus dem Schweriner Umfeld, sondern
aus Entfernungen von mehr als 200 Kilometern angereist. Mecklenburg-Vorpommern
ist ein Tourismusland.