[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 5
54. Jahrgang | November
www.beckmesser.de
Skelett im Nebel
Wie oft wurde schon geklagt über die unleserlichen Programmhefttexte,
in denen die Komponisten ihre eigenen Werke erläutern. Zugegeben,
es macht auch keinen Spaß, etwas mit Worten nochmals zu „erklären“,
was man vorher schon mit Tönen gesagt hat. Da ist die Versuchung
groß, entweder eine detaillierte Erläuterung der genialen
Raum- und Materialdisposition abzuliefern oder zum weltanschaulichen
Rundumschlag auszuholen.
Um dem berechtigten Unmut des geneigten Publikums über solche
verbalen Exstasen in Zukunft etwas entgegensetzen zu können,
soll im Folgenden das Modell eines Programmhefttexts entworfen werden,
der allen Situationen standhalten kann. Es ist sozusagen der ultimative
Eigenkommentar – polyvalent, nach allen Seiten offen und hoffentlich
dazu beschaffen, alle Informationsbedürfnisse zu befriedigen.
Und los geht’s:
„Die grundlegende Reflexion, die das gesamte Werk prägt,
besteht im Wiedererschaffen einer Harmonie, die sowohl von den empirischen
als auch von den abstrakten Prinzipien weit entfernt ist. Verdoppelung
ist hier Thema, Wiederholung in der annähernden Gleichzeitigkeit.
Was nur neu ist, vermittelt eben genau so wenig Information wie
das, was nur bekannt ist.
Das Basismaterial besteht aus einer Folge von Akkorden, die ich
einem Satz eines Klavierzyklus entliehen habe. Der Begriff ‚Phase’
verweist auf die physikalische Beschreibung von Wellenformen und
deren Amplitude. Als Analogie dazu verwendete ich in diesem Stück
eine begrenzte Anzahl von Klängen, die in unterschiedlichen
Abständen erklingen. Vergleichbar mit tonalen Funktionsstufen
entsteht allein durch die Klangabfolge ein kognitives Phänomen,
das für mich über dieses Stück hinaus zu einem zentralen
Thema wurde.
Räumlich sind die Klänge als Arena abgebildet: Die Protagonisten
stehen im Zentrum, umgeben vom Orchester-Chor als mehrkanaligem
Split-Klang, der das Hören in den virtuellen Mittelpunkt des
Orchesterklangs verschieben will. Überwiegend spielen die beiden
Orchester kontrastierendes Material, während sie zusammen mit
der Elektronik, aber diagonal durch das Auditorium spielen. Die
so definierten räumlichen Konfigurationen bestimmen die Art
des Materials, das verwendet werden kann; es gibt eine direkte Verbindung
zwischen der Struktur der Komposition und der Platzierung der Interpreten
im Raum. Zugleich aber simuliert die Verräumlichung im Grunde
genommen Flugbahnen von verschiedenen und komplexen akustischen
Reflexionen.
Heute höre und komponiere ich anders. Ich bin selbst ein
Suchender, wenn ich Musik schreibe, und versuche das Regelwerk in
mir zu erkennen, nicht um es zu befolgen, sondern um es zu überwinden.
Signalhaftes Material in der Musik sowie kontextuell geprägte
Lautereignisse ermöglichen semantisch deutbare Syntagmen. Mein
Skelett des Nebels ist der übermäßige Dreiklang,
ein neutraler, umdeutbarer Klang, der das Stück durchweht.
Ja, das Schöne ist nicht totzukriegen.“
Die Sätze dieses virtuellen Eigenkommentars sind dem Programmheft
der Donaueschinger Musiktage 2005 entnommen und in sinnstiftender
Weise zu einem Ganzen gefügt. Credits (in alphabetischer Reihenfolge):
Dai Fujikura, Clemens Gadenstätter, Juliane Klein, Bernhard
Lang, Valerio Sannicandro, Marco Stroppa, Wolfgang Suppan, Caspar
Johannes Walter.
Ach ja, das Motto fehlt noch: „Das Geschwätz nimmt
seinen Lauf.“ (Salvatore Sciarrino, am angeführten Ort)