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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 47
54. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Ohren auf Europa: Das Ruppige enthüllt seine Feinheiten
Die Düsseldorfer Biennale der neuen Musik befindet sich
mit dem Komponisten Beat Furrer auf der Höhe der Zeit
Die Festivallandkarte der zeitgenössischen Musik wird weiter
geschrieben. Im Umkreis von Mekka und Medina, Donaueschingen und
Witten, sind neue Unterzentren entstanden – auch in Nordrhein-Westfalen.
Eine Region, deren frühere milieuprägende Identitätsstifter
Kohle und Stahl heute beinahe schon nostalgische Gefühle wecken,
hat lernen müssen, neue Wege zu gehen, die Offenheit als Verbündete
zu suchen – auch in der Kultur. Megaevents wie Ruhrtriennale
und Kölner Musiktriennale zehren davon ebenso wie die zahlreichen
freien Projekte, die der Krise der Lebenswelt mit programmatischer
Entschiedenheit gegenübertreten.
Beat
Furrer. Foto: Charlotte Oswald
Darin überzeugt auch eine Initiative wie die Düsseldorfer
Biennale der neuen Musik „Ohren auf Europa“. Keine Frage:
Der Sinnkrise ist nicht mit Allerweltsprogrammen zu begegnen, nicht
mit soft und light und trügerischem Crossover. Zugleich hat
das Eintreten für reflektierte Subjektivität die eigene
Existenzkrise nicht überwinden können. Seltsam, aber wahr:
Ein bereits 1983 gegründetes Solistenensemble, das zum sechsten
Mal ein Festival von europäischem Zuschnitt ausrichtet, steckt
vor Ort noch immer im Kampf um Anerkennung.
Für Beat Furrer ist das obligatorische Pressegespräch,
das von einem Festivalkurator erwartet wird, alles andere als ein
Wunschtermin. Der geborene Schweizer, nun schon eine halbe Ewigkeit
mit Wien verbunden, wo er das dortige Musikleben mit der Gründung
des „Klangforum“ so eminent bereichert hat, zählt
zu den eher schweigsamen Künstlernaturen. Entschieden wohler
fühlt er sich unter Musikern. In Proben beispielsweise.
Als er bei der Einstudierung seines Orchesterwerkes „nuun“
auf das in Maximalbesetzung von 27 Instrumentalisten angetretene
„notabu.ensemble neue musik“ trifft, zeigt sich, wie
er den Zusammenhang von Sprache und Musik versteht: Die Musik selbst
zum Sprechen bringen! Sobald Ensembleleiter Mark-Andreas Schlingensiepen
abklopft und sich fragend dem Komponisten zuwendet, steht dieser
schon, die Partitur in der Hand, bereit, um seine Liste abzuarbeiten.
Nicht, dass er sich nun in einen eloquenten Moderator seiner eigenen
Kunst verwandelte. Die Worte, die Furrer findet, sind die eines
Dirigenten, der das Ganze hebt, indem er unzureichend verstandene
Details behebt. Als ob er fürchtete, etwas zu vergessen, fallen
seine Anmerkungen rasch, freilich stets in der ihm eigenen Zurückhaltung,
die im ausführenden Musiker den Bündnispartner anspricht:
„Im Schlagzeug feine geriffelte Schlägel verwenden. –
Nicht der Druck des Lineals auf der Reibfläche, die Geschwindigkeit
bringt den Effekt. – Aufwärts führende Linien in
der Flöte descrendo abfangen. – Auch den abgedämpften
höchsten Ton auf dem Flügel feiner artikulieren“.
Pianistin Yukiko Fujieda, die die Klangtrauben des Furrer’schen
Klavier-Füllhorns ansonsten katzengleich in die Düsseldorfer
Tonhalle schickt, hat ebenso verstanden wie notabu-Dirigent Schlingensiepen.
In der „feinen tonsprachlichen Nuancierung“ wird dieser
später denn auch das Besondere, das vom Kurator dieser sechsten
Biennale-Ausgabe „Ohren auf Europa“ ausgeht, erkennen.
Tatsächlich – wenn ein Hinweis bei Furrer wiederkehrt,
ist es der Komparativ „feiner“.
Gemeint sind dabei insbesondere die Geräuschklänge, die
in seinem Festivalprogramm nicht nur immer wieder auftauchen, deren
Ausführung hinter den schönen Klängen nach Furrers
Vorstellung vor allem nicht zurückstehen soll. Sicherlich ist
die Emanzipation des Geräuschs musikhistorisch gesehen keine
Neuentdeckung – in der Art und Weise jedoch wie sie hier ins
Zentrum rückt, lässt sie eine künstlerische Vision
sichtbar werden.
„Ohren auf Europa“ steht und fällt mit der ästhetischen
Reflektiertheit seiner Kuratoren. Das Programm des in Partnerschaft
mit der Düsseldorfer Tonhalle ausgerichteten Musikfestes wird
in diesem Frühjahr zum sechsten Mal von einer Persönlichkeit
des europäischen Musiklebens geschrieben und verantwortet.
Eine ebenso weise wie mutige Entscheidung, die Ensemblegründer
und -leiter Mark-Andreas Schlingensiepen mit diesem Vorgehen getroffen
hat. Einerseits hat sich ja durchaus herumgesprochen, dass jeder
Anspruch auf Objektivität in Scheinobjektivität mündet,
dass mithin auch Konzert- und Festivalprogramme eine persönliche
Handschrift tragen müssen. Zum anderen ist es natürlich
ein Risiko, sich als Ensemble immer wieder den Wünschen und
Vorlieben eines neuen Kurators zu stellen. Und doch hat sich „notabu“
den ambitionierten Programmen von Günther Becker, Manfred Trojahn,
Siegfried Palm, Heinz Holliger, Friedrich Cerha und jetzt Beat Furrer
bisher in bewundernswerter Weise gewachsen gezeigt. Noch gut erinnerlich
ist die nicht gelinde Positivüberraschung bei Friedrich Cerha,
als dieser vor zwei Jahren dem Düsseldorfer Ensemble mit der
Interpretation seines großen Orchesterwerkes „Jahrlang
ins Ungewisse hinab“ ebenfalls zum ersten Mal begegnete. Jetzt
also ein Kurator, dessen Maßstäbe sich ja an nichts Geringerem
als an den Qualitäten eines „Klangforum Wien“ und
anderer internationaler Spitzenorchester gebildet und geschärft
haben. Insofern ist „notabu“ auf seiner sechsten Biennale-Umlaufbahn
„Ohren auf Europa“ in Gestalt von Beat Furrer ins Gravitationsfeld
eines energiereichen Wandelsterns geraten. Die Intensität und
interpretatorische Höhe dreier Konzerte bestätigte, dass
das Ensemble gut daran getan hat, sich anziehen zu lassen:
Der Anfang ein Paukenschlag. Scheinbar hatte Furrer die Klang-schönheit
(Pascal Dusapin: „Hop’“, Morton Feldman: „For
Frank O’Hara“) gegen das Perkussiv-Vibrierende (Matthias
Spahlinger: „aussageverweigerung/gegendarstellung“,
Beat Furrer: „nuun“) gesetzt. Beim zweiten Hinhören
zeigte sich: die Alternative ist Scheinalternative. Zwar wird Feldmans
meditativer Energiestrom durch einen wolkenbruchartigen Trommeleinsatz
gestört, ohne ihn zum Erliegen zu bringen. Und das Ruppige
eines Spahlinger verhält sich – Furrers Lieblingsvergleich
– wie die monochromen Gemälde in der Bildenden Kunst,
die erst im Nähertreten ihre Feinzeichnung enthüllen.
Fortsetzung der Thematik beim zweiten Festivalabend mit einer
Musik, die zwischen Klang und Geräusch oszilliert, sich tastend
vorwärts bewegt, in sich hineinhört, abwartet: Salvatore
Sciarrinos „Quaderno di strada“, „Notizbuch der
Straße“, 2003 entstanden, eine Woche zuvor in Witten
mit „Klangforum Wien“ und dem Bariton Otto Katzameier
zur deutschen Erstaufführung gebracht. Im Interpretationsvergleich
wahrte „notabu“ Augenhöhe, harmonierte glänzend
mit einem atemberaubenden Solisten. Vom Flüsterton über
die sonoren Mitten bis zum Falsett meisterte Katzameier Sciarrinos
instrumental angelegte Gesangspartie, ausgeschriebene Verzierungen
samt pulsierender Pianissimo-Dynamik.
Nach dieser puristischen Versenkung und nach vorangegangenem furiosen
Eröffnungsabend fiel dem Schlusskonzert offenbar eine kompensatorische
Aufgabe zu. Spürbar zunächst das Bedürfnis nach historischer
Vergewisserung. Eingangs Ravels „Trois poèmes de Stéphane
Mallarmé“, zum Schluss Strawinskys „Trois poésies
de la lyrique japonaise“ und „Deux poèmes de
Konstantin Balmont“, wozu Clementine Jesdinsky ihre schlanke
Sopranstimme lieh. Sicherlich: Furrers Plädoyer für die
französische Klangwelt ist eines für die Leichtigkeit
dieser Vokalkomposi-tionen, auch für das Brechen von Kulturschranken,
die, worauf er zu Recht hinwies, bis heute untergründig nachwirken.
Und doch hatte es etwas Akademisches, wie ein offener Musikkosmos,
den die gut funktionierende Arbeitsgemeinschaft Furrer/notabu entfaltete,
plötzlich altmeisterlich gerahmt wurde. Neben historischen
gingen in sein Schlussprogramm zudem Rücksichten persönlicher
Art ein: „Nach-Ruf...entgleitend...“ war auch Reverenz
an den Komponisten- und Professoren-Kollegen Georg Friedrich Haas.
Dessen betörende, mikrotonal verschobene Klangwelt erwies sich
allerdings als sperrig. Zu singulär stand das ver-rückte
Werk an diesem Abend da.
Ungemein glücklich hingegen „Credentials or Think, think,
Lucky“, Furrers Verbeugung vor dem verehrtem Lehrer Roman
Haubenstock-Ramati. Dessen Frischzellenkur für die Tradition
des Orchesterliedes mit durchgeschütteltem Lucky-Monolog aus
Becketts „Warten auf Godot“ wird seit der Donaueschinger
Uraufführung 1961 leider nur selten gespielt. Und doch besitzt
das Werk, was am vergrübelten Ächzen von Rebecca Saunders’
„Quartett“ ebenso vermisst wurde wie im Drüberweg
von Mauricio Sotelos Flötenkonzert „Appassionato e un
silencio ardente“ mit Solistin Petra Keßler: Witz und
Tiefgang.
Mit Lust stürzte sich Stimmakrobatin und Sopranistin Ingrid
Schmithüsen in die zischende, girrende Sprech- und strahlende
Klangwelt dieser Festival-Wiederentdeckung. Solcherart „Credentials“,
ironisch gebrochen, glühend aufgeladen, sind „Referenzen“,
die uns nah sind.