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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 56
54. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Zeitgenössische Musik und urbaner Raum
Wie in Leipzig Heimat und Moderne inszeniert werden
Als in Leipzig mehrere Kulturinstitutionen eine große „Experimentale“
verabredeten, war auch Thomas Christoph Heyde dabei und kuratierte
vorbildlich ein Forum für zeitgenössische Musik in Leipzig.
Das Konzept des Festivals „Heimat, Moderne“ berücksichtigt
Städtebauliches. Dementsprechend findet der Veranstaltungsabend
am 4. Juni im Ring-Café, der ehemaligen Begegnungsstätte
eines riesigen stalinistischen Gebäudes im Zentrum, statt.
Dieses aus den 50ern stammende Ambiente überrascht, die Neubelebung
gelingt und erfreut. Wie viele wissen, liegt dem künstlerischen
Leiter Heyde bei der Präsentation Neuer Musik die Berücksichtigung
besonderer elektronischer Formen sehr am Herzen. Ihm ist es zu verdanken,
dass sich Guido Hübner und Samuel Leviton an einer zentralen
Arbeitsplatte gegenübersitzen und als „Synthetisches
Mischgewebe“ eine Schar elektronischer Getriebe, Kleinstmotoren
und skurrile Alltagsdinge in Bewegung setzen. Das Duo verfügt
tatsächlich über Gesprächsqualitäten. Um das
sensible Klanglabor gruppieren sich die Hörer kreisförmig.
Das Ganze wirkt wie Schach für elektrisch-musische Köpfe
und Gerät: Mini-Knistern, verschiedene Rauschsequenzen, Schaben,
Schnüffelschweine, Gräser, Möhren, Handnähmaschine
und Sternschnuppen, Uhren, Vegetationszonen, Lautsprecher an Plastikschüssel,
Knirsche. Ein schöner Zeitvertreib. Es entsteht eine ganz und
gar nicht überfrachtete Situation, in der auch das Publikum
entspannen kann.
Am Tag danach hält Francisco Lopez, was er verspricht. Wir
lassen das Volk am Stadtfest-Rummel tummeln und ziehen uns in den
Keller der Oper zurück, das Licht wird gelöscht. Der Musiker
nimmt sich die nächste Zeit, um mit elektronischem Hilfsgerät
den Klang von Fahrstühlen voll auszufahren. Diese klingen dann
wie eine Sommerwiese oder wie eine im Bergwerk arbeitende, windige
Höllenmaschine. Es zeigt sich wieder schön, dass der Mensch,
wenn er Wirkliches auf bestimmte sinnliche Momente reduziert, gewaltige,
reiche und intensive virtuelle Räume schafft. Gerne hätten
diese 40 Minuten um ein Vielfaches länger dauern können.
Weniger Spannendes überträgt der Mitteldeutsche Rundfunk
am 19. Juni: Im Foyer der Oper ist eine Diskussion über „Heimat“
im Gang und eine Hanns-Eisler-Werkschau darin eingebettet. Stephanie
Wüst singt.
Vor dem neuen Bildermuseum laufen wieder junge Helfer von Erwin
Stache umher. Sie sind Gymnasiasten aus Brandis und bedienen kleine
elektronische Klangerzeuger. Diese werden auf Geheiß des Komponisten,
der die Maschinensprache spricht und genau weiß, wo ein Mikrochip
musikalisch hingehört, von Klacken auf Summen umgestellt. Die
Installation mit dem Titel „73,8 Kilo-Ohm“ ist an einem
letzten warmen Sonntagabend im August eröffnet. Drei Klanginseln
bestehen aus mehreren senkrecht in den Raum ragenden Edelstahl-Stangen.
Diese werden von Menschen angefasst, Strom fließt. So werden
Samples angesteuert, moduliert und verstärkt. Mit beliebigen
Körperteilen kann man dann wie Cecil Taylor oder John Cage
spielen. Damit hat Stache interessante Synthesizer für Park-
und Staatsanlagen konstruiert. Zudem denkt er sie noch weiter in
den urbanen Raum hinein: Alle Metallstreben könnten die Menschen
mit einer Berührung in Schwingung versetzen, etwa das ganze
Gerüst des neuen Bildermuseums. Der Ausbau dieser Installation
zum Klettergerüst ist sehr zu empfehlen.
Am 9. September findet das sich monatelang erstreckende Festival
„Heimat, Moderne“ in einer Freiluftinszenierung an den
blau-weißen Wohnquadern am Brühl seinen Höhepunkt
und Abschluss. Das Forum-Ensemble führt das begehbare Konzert
„Breitengrad Leipzig“ auf, welches die 44-jährige
schweizerische Komponistin Mela Meierhans diesem speziellen Ort
zugemessen hat. Pittoreske Details zwischen den sich bewegenden
Musikern, rezitierten Texten und installierten Zuspielbändern
samt lebendigem Rohstoff für ungarische Salami wirken sinnlich
aufregend und faszinierend. Der intellektuelle Anspruch des Werkes
besteht indes darin, sich sowohl mit der Musik Richard Wagners,
dessen Geburtshaus einst an dieser Stelle stand, auseinander zu
setzen, ihn als Sohn einer Leipziger Moderne auszuweisen, als auch
die Möglichkeit eines heimatlichen Breitengrads als Schnittstelle
zwischen historischen Formen und ihrer zeitgenössischen Repräsentation
zu entwerfen.