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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 56
54. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Vielfalt als programmatische Ausrichtung
Zahlreiche Uraufführungen beim zehnjährigen Jubiläum
der Münchner Gesellschaft für Neue Musik (MGNM)
Schon kurz nach ihrer Gründung 1996 erlangte die Münchner
Gesellschaft für Neue Musik e.V. (MGNM) eine zentrale Rolle
im Münchener Kulturleben. Grund genug, das zehnte Musikfest
der Gesellschaft am 7. und 8. Oktober ganz besonders zu begehen:
Zahlreiche Uraufführungen wurden geboten, darunter erstmals
mit Unterstützung der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung. Schließlich
schaute auch Kulturreferentin Lydia Hartl vorbei, die die jährlichen
Zuschüsse von rund 10.000 Euro weiterhin zusicherte.
Neue Musik – der Begriff schreckt etwas ab. Zu sehr erinnert
er an die „Philosophie der Neuen Musik“ von Adorno,
in der das Frankfurter Multitalent die Musik von Strawinsky und
anderen als „Geschmack am Ungeschmack“ verdammte. Und
so stellt man sich unter der Münchner Gesellschaft für
Neue Musik eine Vereinigung vor, die apodiktisch Geschmack vom Ungeschmack
trennt.
Doch weit gefehlt: „Wir schließen niemanden aus, uns
ging es von Anfang an um das Schaffen eines pluralistischen Forums
und Podiums für Münchener Komponisten“, unterstreicht
Vorsitzender Reinhard Schulz. Das unterscheidet die MGNM von anderen
Vereinen und Veranstaltern dieser Art, die mitunter immer noch von
Ideologien und Dogmen geleitet werden.
Und alljährlich präsentiert die MGNM auf ihrem Musikfest
eine schillernde Vielfalt, die stets aufs Neue das Neue diskutiert.
Das diesjährige Musikfest offenbarte nicht nur diese Vielfalt,
sondern zugleich die mögliche Erneuerung durch das Alte als
Trend der zeitgenössischen Musik. Dass das Neue altert, hat
schon Adorno erkannt, auf diesen Umkehrschluss kam er hingegen nicht.
Neu wirkten jene Kompositionen, die den Dialog mit der Tradition
nicht scheuten, ihn aber klanglich und persönlich weiterverarbeiteten.
Die faszinierendsten Beiträge kamen von Nikolaus Brass: „lost
and found“ für Saxophonquartett und die definitive Fassung
des 2. Streichquartetts von 2002. Zu den Meisterwerken seiner Gattung
muss das 2. Streichquartett gerechnet werden, das – mit Hilfe
eines an der TU München entwickelten Computer-Umblättersystems
– vom Auritus-Quartett kongenial gestaltet wurde.
Mikrotonales Umkreisen von Terzen, Sekunden und Quinten schafft
eine Tonsprache des Abschieds, nicht mehr von dieser Welt das Spiel
mit Obertönen. Da reicht der viel beschworene Bezug zu Morton
Feldman nicht aus: Hier schimmert auch der filigran-spröde
späte Schostakowitsch durch. Tatsächlich verriet Brass,
dass er die Abgründigkeit des Russen sehr schätze. Über
ein viertes Streichquartett, das die Tendenzen des zweiten fortsetzt,
denke er bereits nach.
Höhepunkte schufen ebenso Christoph Reiserer und Michael
Hirschbichler. Vor allem Hirschbichlers „Logion 77“
für Flöte und Oboe, das im Wechselspiel von Atem, Klang
und Stille Einflüsse von Scelsi, Salvatore Sciarrino und den
späten Nono originell verarbeitet, erstaunte mit Können
und tiefer Aussage. Schade nur, dass der Anfang Zwanzigjährige
den klanglich durchaus nachvollziehbaren programmatischen Bezug
zu Jesus’ Ausruf „Ich bin das Licht“ im Programmheft
verwirft.
Überholt wirkten solche Werke, die einzig Relikte von Stilen,
Techniken und Zeiten blieben. Das betraf einerseits belanglos im
Alten erstarrte Werke wie Herbert Baumanns „Con un minuetto“,
das ein Menuett des achtjährigen Mozart variiert, oder Carl
Manskers „Rondo“ op. 46. Dabei zeigte doch das überdeutlich
auf Britten und den mittleren Schostakowitsch verweisende Duo für
Violine und Cello „Pas de deux“ von Graham Waterhouse,
dass auf dem Pfad zurück in die Vergangenheit authentische
und intensive Beiträge möglich sind.
Andererseits beließ es – nicht minder rückwärtsgewandt
– Karl F. Gerber mit seinem „Unarieunbegleitet“
für Stimme und computergesteuerten Flügel beim Klangspiel,
wie es schon vor Jahrzehnten in bestimmten Kreisen en vogue war.
Hinter den heutigen elektroakustischen Möglichkeiten fielen
die Klänge in Tom Soras „Gesetz und Freiheit“ zurück
(großartig hier das XSEMBLE München). Zuweilen schützt
künstlerische Offenheit, wie sie die MGNM repräsentiert,
nicht vor Peinlichkeiten. Eigentlich wären Johannes Daums „Melodien
zum Dahinfließen V“ nicht die Rede wert, wenn sich der
1974 geborene Jazz-Pianist nicht schon häufiger beim Musikfest
versucht hätte: Es gehört schon viel Selbstbewusstsein
dazu, dürftigen Kitsch als Beschäftigung mit dem klassischen
und romantischen Erbe zu verkaufen. Und doch ist davor zu warnen,
solche Beiträge im Vorfeld auszuschließen.
Denn es ist das große Verdienst der MGNM, ein breites Bild
der zeitgenössischen Musikstadt München zu transportieren
und selbst Komponisten wie Brass ein wichtiges Podium zu bieten.
Tatsächlich hat die MGNM Modellcharakter, wie Anfragen aus
anderen Städten belegen. So gesehen kann die MGNM hoffnungsfroh
in die Zukunft sehen: „Allerdings fehlt uns engagierter Nachwuchs“,
schränkt Schulz ein. Aber vielleicht kommt der ja noch. Zumindest
waren die jungen Hörer, die in Scharen das Kinderkonzert besuchten,
von Neuer Musik begeistert.