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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 56
54. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Das Mozartjahr hat schon längst begonnen
Kammermusik der Extraklasse: Seit 1993 gibt es jährlich
das „Moritzburg Festival“
„Hand und Fuß“ habe das Oktett, das sein fleißiger
Schüler Mendelssohn Bartholdy soeben vorgelegt hatte, berichtete
im November 1825 Zelter stolz seinem Freund Goethe. Den langen Lebensweg
konnte Zelter kaum ahnen, die Liebe, die das Oktett Es-Dur für
4 Violinen, 2 Bratschen und 2 Violoncelli unvermindert empfängt.
Natürlich ist die Karawane der Musikgeschichte weitergezogen
und Mendelssohn Bartholdy heute kein Indiz, am Puls der Zeit zu
fühlen. Doch der Tatendrang, den das Werk des jugendlichen
Felix versprüht, der unverbrauchte Schöngeist, das Loten
nach kammermusikalischen Grenzen – dies alles wirkt wie ein
Jungbrunnen und entwickelt geradezu Symbolkraft für ein Ereignis
wie das „Moritzburg Festival“.
Für weit reichende Ausflüge über exponierte Gipfel,
in entlegene Winkel und auf Neuland stehen diese zwei Wochen Kammermusik
seit 1993 alljährlich im August, jederzeit für Interpretationen
auf berauschendem Niveau, gern auch ein bisschen gegen den Strich.
Die Liste der seitdem Beteiligten lässt kaum anderes vermuten:
Janine Jansen, Julian Rachlin, Heinrich Schiff, Jörg Widmann…
Wenn das Fest, inzwischen traditionell, mit dem Mendelssohn-Bartholdy-Oktett
endet, dann erlebt das Publikum mehr als nur ein Finale voller Leidenschaft
und Überschwang. Hier findet sich die lebhafte Familie eigentlicher
Solisten, 30 in diesem Jahr, noch einmal zusammen, die in Moritzburg,
einer Kleinstadt nördlich von Dresden, für die Festivalzeit
existiert. Um im nahen Wald im Landhotel für eine Weile gemeinsam
zu wohnen und zu arbeiten. Um – je nach Literatur, diesmal
von Vivaldi bis Chen Yi – wechselnde Ensembles zu formen,
zu proben und Konzerte zu geben. An das „Marlboro Festival“
lässt somit mehr als nur der ähnlich lautende Name denken.
Kai Vogler (Violine), Peter Bruns und Jan Vogler (beide Violoncello)
haben das Ereignis auf dem Marlboro College in Vermont selbst erlebt,
fanden die Idee übertragbar und setzten einen Sprössling
in die Idylle des Moritzburger Jagdschlosses. Er gedeiht: zu Recht
spricht man inzwischen von einem der wichtigsten europäischen
Kammermusikfestivals. Aber er wuchert nicht: Zehn Konzerte wie zuletzt
sind normal. Wenn eins davon in die rauschende und knallende Event-Halle
der „Gläsernen Manufaktur“ Dresden lockt, dann
weniger für höchsten Klanggenuss, sondern um dem Kooperationspartner
Volkswagen zu danken. Den Kern bilden indes die Konzerte in der
Moritzburger Kirche und im Speisesaal des Schlosses, wo 71 kapitale
Rothirschgeweihe in solcher Zahl beinahe die Akustik adeln. Mozart
als eines der Themen dieses Jahrgangs zu wählen war ein wohl
überlegter Vorgriff auf ein sicher anstrengendes Mozartjahr
2006. Hat man hier das Divertimento Es-Dur KV 563 mit Benjamin Schmid
(Violine), Antoine Tamestit (Viola) und Jan Vogler (Violoncello)
erlebt, durfte man wunderbare Blicke zur Seite und in die Tiefe
(Adagio!) mitnehmen.
Ein weiterer Schwerpunkt war China. Die in den USA lebenden Chen
Yi und Zhou Long, Composers-in-residence 2005, konfrontieren oder
verschmelzen in ihren Werken chinesische Tradition mit europäischer
Klangsprache, schaffen Projektionsflächen, um Unterschiede
sichtbar zu machen. Fünf der sechs gespielten Werke erklangen
erstmals in Europa – darunter „Ning“ für
Pipa (Yang Jing), Violine (Mira Wang) und Violoncello (Jan Vogler).
Chen Yi schrieb das in seiner schlüssigen Dramatik überzeugende
Werk 2001 im Gedenken an das Nanjing-Massaker im Zweiten Weltkrieg:
erst Dekomposition durch zerbrechende Skalen, rasende Streichertremoli
und entstellend fremde Pipa-Klänge, dann Harmonisierung und
Versöhnung. Sehr guter Besuch ist die Regel beim Festival,
nun war es mit 4.000 Gästen erstmals maximal ausgelastet. Andere
Klassik-Festivals in und um Dresden sind davon weit entfernt. Was
lässt das nächste „Moritzburg Festival“ vom
4. bis 20. August 2006 erwarten? Neue Namen wie Baiba Skride, Renaud
Capuçon und Hélène Grimaud sprechen jedenfalls
für sich. Vor allem darf man gespannt sein, wie sie sich in
die Moritzburgfamilie einfügen.