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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 45
54. Jahrgang | November
Oper & Konzert
Entdeckungsreisen in die Weiten der Tastenkunst
Das Klavierfestival Ruhr stellte neuen Besucher-Rekord auf
Nicht ohne Stolz präsentierte Intendant Franz Xaver Ohnesorg
im 16. Stock des Hochhauses der Ruhrkohle-AG hoch über der
Essener City die Bilanz des diesjährigen Klavierfestivals Ruhr
den Medienvertretern – von der Wachstumskurve 2005 können
andere Großveranstaltungen im Bereich der Hochkultur allenfalls
träumen. Wie geht das? Wächst das breite öffentliche
Interesse an klassischer oder gar zeitgenössischer Musik? Zumindest
scheint es wachgehalten zu werden, wenn Kräfte gebündelt
und vielseitige Vermittlungswege optimiert werden und diese vor
allem den Standortfaktoren vor Ort auf den Leib geschrieben sind.
Der Initiativkreis Ruhrgebiet erwuchs aus diesen Faktoren –
im Verbund haben hier die Wirtschaftsunternehmen erkannt, was über
die nackte Wirtschaft hinaus noch gefördert sein will, um dem
Kulturwesen Mensch einen attraktiven Lebensraum zu bieten. Kultur
im Ruhrgebiet zu erleben heißt nicht selten, sich auf Entdeckungsreise
zu begeben, vor allem wenn es um ungewöhnliche Aufführungsstätten
geht. Beispielhaft dafür wurde die Auftaktveranstaltung des
Klavierfestivals in die große Nacht der Industriekultur eingebunden,
wo – nach dem Vorbild der beliebten Museumsnächte –
eine Nacht lang alle Industriedenkmäler ihre Pforten öffnen
und Neugierde wecken. In Bochums monumentaler Jahrhunderthalle zeigten
an diesem Abend die Pianisten aus den Meisterklassen der Musikhochschulen
ihr überragendes Können und machten Appetit auf mehr,
viel mehr: 75 Veranstaltungen in den zurückliegenden drei Monaten
mit 112 Pianisten aus 22 Nationen, die zusammengenommen etwa 300
Kompositionen auf 30 Podien in 16 Städten spielten –
das klingt nach Materialschlacht, wurde aber der Nachfrage gerecht,
die mit 55.000 Besuchern ein Rekordniveau erreichte. Allein über
3.000 Jazzfreunde pilgerten in die Essener Grugahalle, als dort
der wohl gefragteste Jazz-Vokalist Bobby McFerrin im verspielten
Duo mit Chick Corea auftrumpfte. Lang Lang, 23 Jahre jung und zurzeit
einer der Shooting Stars am Tastenhimmel, raubte auf einem Monate
im Voraus ausverkauften Konzert den Atem bei einer rasenden Paraphrase
von Liszts Don Giovanni-Bearbeitungen. Das entsprach der programmatischen
Leitidee des Festivals, wo es vor allem um das weite Feld von Transkriptionen
und Bearbeitungen bereits bestehender Kompositionen gehen sollte.
Etliche große Interpreten füllten ausverkaufte Konzerthäuser
und hinterließen stehende Ovationen, etwa Alfred Brendel,
Rudolf Buchbinder oder Maurizio Pollini, der in großartiger
Reife Beethoven mit Schönberg gegenüberstellte. Ivo Pogorelic
erfüllte bei Chopin, Skrjabin und Rachmaninoff alle Erwartungen
bezüglich verstörender Interpretationsansätze, die
die Meinungen polarisieren. Berückende Momente bescherte eine
Wiederbegegnung mit der legendären, selten auftretenden Argentinierin
Martha Agerich. Als Solistin hat sie alles erreicht, deshalb gibt
sie ihre einzigartige, von größtem Einfühlungsvermögen
bestimmte Kunst gegenwärtig vor allem an junge Talente weiter,
mit denen sie im Kammerensemble auftritt – im Konzerthaus
Dortmund kam es mit dem Geiger Géza Hosszu-Legocky und der
Pianistin Lilya Zilberstein zu einer ergreifenden Sternstunde der
Kammermusik.
Die Begegnung mit den größten Künstlern unserer
Zeit ist eines, die Vermittlung von musikalischen Hintergründen
ein anderes Anliegen beim Klavierfestival Ruhr. Moderierte Konzerte
offenbarten immer wieder, was sich hinter der Musik verbirgt.
Der Pianist und Vollblut-Musikdidakt Siegfried Mauser demonstrierte
im Bottroper August Everding Kulturzentrum mit einem höchst
lehrreichen Gesamtkonzept, welche Wege in die musikalische Moderne
führten. Vor allem am Beispiel der Musik von Paul Hindemith
und Karl Amadeus Hartmann machte er referierend den Weg frei zum
verständigen Hören und Nachvollziehen einer Materie, die
– komplex, sperrig und voll schroffer Dissonanzen geradezu
berstend – zu allem anderen als zum gemütlichen Zurücklehnen
einlud.
Musik, die aus der klassischen Moderne in die Gegenwart führt,
schaffte sich in diesem Ruhrgebiets-Klaviersommer auf vielfältigen
Wegen Gehör. Als einer der wichtigsten Wegbereiter der Neuen
Musik wurde Pierre Boulez in der Gebläsehalle des Duisburger
Landschaftsparks mit dem diesjährigen Preis des Klavierfestivals
geehrt. Damit ist zum ersten Mal kein Pianist, sondern ein Komponist
Träger dieser Auszeichnung. Pierre Laurent Aimard und Tamara
Stefanovich führten dazu das gesamte, oft sehr sperrig anmutende
Werk für Klavier solo des 80-jährigen Franzosen auf, der
sich betont locker vorm Publikum präsentierte.
Um Aktualität im Musikleben bemühte sich das Klavierfestival
durch seine Kompositionsaufträge und deutlich mehr Uraufführungen
als in der Vergangenheit. Einer davon ging an den jungen österreichischen
Komponisten Johannes Maria Staud. Sein Klavierstück „Peras“
ist eine Bearbeitung für Klavier, nämlich eine von einem
eigenen Orchesterwerk.
So abstrakt und durchgeistigt der vom Komponisten selbst zuvor referierte
kunstphilosophische Überbau dieser hochkonzentrierten acht
Minuten Musik anmutete, so sehr nahm die ungestüme Sinnlichkeit
und Direktheit gefangen, mit der dieses musikalische Kunstwerk unter
den Händen von Anika Vavic zum ersten Mal erklang – eine
junge Tonsprache, die zum hochenergetischen Musizieren einlädt!