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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 18
54. Jahrgang | November
Forum Musikpädagogik
Arbeiten an der Klassen-Theorie
Kongress zur Praxis des Klassenmusizierens an der Universität
Mainz
Eine ganze Klasse voller Querflöten, Klarinetten, Trompeten,
Hörner, Posaunen und Tuben auf einmal unterrichten? Was traditionellem
instrumentalpädagogischem Denken unmöglich scheint, ist
längst Praxis an vielen Schulen im Land. Nun widmete sich ein
Kongress der Hochschule für Musik Rheinland-Pfalz im Fachbereich
11 der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz in Zusammenarbeit
mit der „Akademie für Musikpädagogik e.V.“
drei Tage lang dem Thema des Klassenmusizierens.
Eingeladen hatte der Mainzer Musikpädagoge Prof. Ludwig Striegel,
der – wie er bekannte – seinerzeit selbst nach anfänglicher
Skepsis „vom Saulus zum Paulus“ geworden ist und nun
eine ambitionierte Forschungstätigkeit auf diesem Gebiet leitet.
Im Frühjahr hatte bereits in München ein Kongress zum
Thema stattgefunden, der sich eher den theoretischen Aspekten widmete.
Diesmal nun sollte es stärker um die Praxis gehen. Zunächst
aber stellte Prof. Dr. Hans-Ulrich Schäfer-Lembeck in seinem
Einführungsvortrag eine Brücke zum Münchner Kongress
her. Er betonte, man sei sich grundsätzlich einig, dass das
Klassenmusizieren zu unterstützen sei. Wichtig aber sei eine
theoretische Einbettung. In diesem Zusammenhang erwähnte Schäfer-Lembeck
die beiden verbreiteten Legitimationsmuster für den Klassenunterricht:
einerseits die Wirkung von Musizieren („Musik macht schlau
und sozial“) und andererseits die formalen Repräsentationen,
die sich als Folge praktischen Musizierens sozusagen wie von selbst
ergäben. Er kritisierte beide Argumente als theoretisch unzureichend
und konstatierte weiteren Diskussionsbedarf.
Der größte Teil des Kongresses bestand nun aus praktischen
Workshops. Im Streicherbereich konnte man von Barbara Marsch und
Anne Kathrin Ullrich sowie Birgit und Peter Bloch die Methode des
amerikanischen Violinpädagogen Paul Rolland näher kennen
lernen, die die Szene des Streicher-Klassenunterrichts unangefochten
beherrscht, wenngleich die einzelnen Dozentinnen individuelle Schwerpunkte
oder Ergänzungen vornahmen. Besonders praxisnah wurde es durch
einen Bustransfer zu einer Grundschule im Mainzer Brennpunkt, an
der Rita Hens und Dorothee Koschnicke sich bei der Arbeit mit den
Kindern über die Schulter schauen ließen. Wie auch die
anderen genannten Dozentinnen ergänzen sie ihre violinpädagogische
Arbeit durch regelmäßig in den Unterricht eingestreute
Einheiten mit Relativer Solmisation inklusive der Rhythmussprache.
Der Wirkungsdiskurs klang wieder an, als Rita Hens berichtete, dass
die Kinder der Streicherklassen zum großen Teil Empfehlungen
für das Gymnasium erhalten, während die Kinder der Parallelklassen
überwiegend Hauptschul- und Realschulempfehlungen ausgestellt
bekommen.
Einblick in die Bläserklassenarbeit konnte man durch Bernd
Schumacher gewinnen, der bereits bei der Eröffnung seine Bläserkinder
vorstellte, indem er – selbst vom Schlagzeug aus die Gruppe
leitend – die musikalische Umrahmung übernahm. Weitere
Workshops widmeten sich dem Trommeln (Prof. Thomas Keemss), dem
Arrangieren (Konrad Georgi), der Grundmusikalisierung im so genannten
„Aufbauenden Musikunterricht“ (Dr. Johannes Bähr),
und der Relativen Solmisation (Malte Heygster). Auch der Jazz war
mehrfach vertreten: Die Titel „Swinging Voices“ und
„Magic Tones“ standen für Gospel, Jazz und Rock
(Reiner Senger) sowie für die Jazzimprovisation (Paul Schütt).
Steffen Weber zeigte Grundlagen der Jazzharmonik, -rhythmik, -improvisation
und -didaktik im Hinblick auf Schulcombos, wobei hier wohl diejenigen
besonders profitierten, die bereits ein wenig vertraut mit der Materie
waren, ohne Jazz-Spezialisten zu sein. Steffen Liede und Michael
Schumacher hielten einen mitreißenden Workshop zum Thema „Samba
in the classroom“ und führten vor, wie eine an sich anspruchsvolle
Musik mit einem „Baukastensystem“ verschiedener Rhythmen
auch von Schülerinnen und Schülern realisiert werden kann.
Außereuropäisches
Die erste Abendveranstaltung gewährte mit Hilfe von Videos
und Tonaufnahmen Einblicke in die Musikkultur und -pädagogik
außereuropäischer Länder. Lahnor Adjei war als Generalmusikdirektor
des National Symphonie Orchestra Ghana gekommen und überraschte
das Auditorium mit der Information, dass sämtliche Musiker
des Orchesters ihre Instrumente autodidaktisch erlernt hätten.
Nichtsdestoweniger spielen sie die so genannte klassisch europäische
Musik mit Begeisterung und zeigen sich ihrer kulturellen Umgebung
gemäß besonders im rhythmischen Bereich äußerst
sicher, während die Intonation mehr Probleme bereitet. Die
Musiker geben ihr instrumentales Können mittlerweile an ausgewählte
Jugendliche weiter und sorgen so selbst für ihren Nachwuchs.
Carmen Stahl berichtete von ihren Erfahrungen aus Malawi, einem
der ärmsten Länder der Welt. Von ihren Bild- und Tonaufnahmen
faszinierte insbesondere eine Band aus drei Jungen im Alter von
knapp über zehn Jahren, die ausnahmslos auf selbst gebastelten
Instrumenten – einem Schlagzeug aus Eimern und Kanistern,
einem Banjo aus Holz und Lastwagen-Bremszügen – ein ganzes
Dorf zum Zuhören und Mittanzen bringt. Schließlich gab
Anne Kathrin Ullrich Einblicke in ein Klassenunterrichtsprojekt
im Himalaja, wo Kinder der ärmsten und niedrigsten Kaste über
mehrere Jahre hinweg Streichinstrumente erlernen. In einem Raum
spielen dabei verschiedene Gruppen und arbeiten an unterschiedlichen
Aufgaben, ohne sich von der beträchtlichen Lärmkulisse
durch die jeweils anderen stören zu lassen. Schließlich
spielen sie Mozart-Streichquartette in Orchesterbesetzung genauso
gern wie Filmmusik aus den Bollywood-Produktionen oder traditionelle
Volksmusik. Alle diese Beispiele regen, wenngleich sie nicht unbedingt
zum Zentrum des Kongressthemas gehören, zum Nachdenken über
unsere musikpädagogischen Grundprämissen an. Wird hierzulande
hauptsächlich an methodischer Raffinesse gefeilt, so zeigt
sich dort die Kraft des Einflusses von Umgebung und Motivation.
Die Abendveranstaltung des zweiten Tages war eine Podiumsdiskussion
über „Perspektiven des Klassenmusizierens“ mit
Gesprächsteilnehmern aus Wirtschaft, Schule und Hochschule,
darunter auch die Geschäftsführung der „Akademie
für Musikpädagogik“, die vom Bundesverband deutscher
Musikinstrumentenhersteller finanziert wird und ihrerseits die Bemühungen
der Mainzer Hochschule um dieses Thema finanziell unterstützt.
Nachdem das Podium seine insgesamt positive Einschätzung des
Klassenmusizierens ausgetauscht hatte, klangen aus dem Publikum
durchaus auch kritische Töne an, die wieder an die Forderung
nach theoretischer Fundierung im Referat von Schäfer-Lembeck
erinnerten. Eine Studentin brachte es auf die Formulierung: „Wie
kann das Erlernen eines Instrumentes im Klassenverband mit modernen
musikdidaktischen Konzeptionen kompatibel sein?“ Hier verwies
Gastgeber Ludwig Striegel auf die Mainzer Forschungen und auf die
hier betriebene Erstellung von Praxismaterialien, die auch andere
Zugänge als das Instrumentalspiel ermöglichen sollen.
Dies demonstrierte Striegel in einem Vortrag zu einem solchen „integrativen
Musikunterricht“. Die besagten Praxismaterialien werden Spielhefte
für die Kinder ebenso umfassen wie Schulbücher mit darüber
hinausgehenden Anregungen, etwa zu den Themenfeldern Musikgeschichte,
Musiklehre und -theorie, Musik und Bewegung, Musik und Bildende
Kunst. Letztlich soll es also nicht um einen gedankenlosen Praktizismus
gehen, sondern auch um Reflexion und Kulturerschließung. Die
Materialien enthalten dabei mehr oder weniger bekannte Liedsätze,
Sätze aus Musikwerken aller Zeiten vom Mittelalter bis zum
21. Jahrhundert und auch Sätze aus den Genres Jazz und Populäre
Musik.
Maßgeblich beteiligt war und ist hier auch Striegels Kollege
Prof. Tobias Rokhar, der sich als Musiktheoretiker um die Arrangements
des Repertoires kümmert. Der Wirkungsdiskurs, auf den Schäfer-Lembeck
zu Beginn schon hingewiesen hatte, wurde noch einmal explizit thematisiert,
als Martina Flörchinger erste Ergebnisse einer empirischen
Untersuchung mit Bläserklassen vorstellte.
Fazit: Herausforderung
Danach lehnten sich die Kinder einer Bläserklasse untereinander
weniger ab als Kinder einer Kontrollgruppe. Dieses Ergebnis eines
günstigen Einflusses auf das Sozialverhalten war hier deutlicher
ausgeprägt als etwa in der viel zitierten Berliner Studie von
Hans Günther Bastian. Ob es einen Transfer auf außerschulische
Zusammenhänge und auf neue Sozialpartner geben könnte,
bleibt hier freilich ebenso offen wie in vergleichbaren Studien.
Die Website http://www.netzwerk-klassenmusizieren.de/ wird auch
in Zukunft aktuelle Informationen zum Thema bereithalten. Für
Musikpädagoginnen und Musikpädagogen bleibt es eine Herausforderung,
weiter an diesem Thema zu arbeiten und dabei amerikanische Traditionen
und eigene Hintergründe und Zugänge einerseits sowie praktische
Herangehensweisen an die Musik und anspruchsvolle didaktische Grundkonzeptionen
andererseits miteinander zu verbinden und auszubalancieren.