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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 14
54. Jahrgang | November
Gegengift
Kanon und Kaninchen
Man darf sich nicht beschweren. Kultur ist heutzutage en vogue.
Jeder und jede hat sie. Man riskiert Beleidigungsprozesse, wenn
man sie einem abspricht. Selbst dort, wo der Naive nur das Regime
des schnöden Mammons oder die ultima ratio der blutigen Gewalt
am Werk sieht, geht es in Wahrheit um ganz andere Dinge. Keine Firma
ohne Unternehmenskultur, keine Kompanie deutscher Soldaten in Nordafghanistan
oder demnächst im Westsudan, die nicht einer Philosophie folgt.
Kultur ist das Passepartout, durch das alles andere (das so bleibt,
wie es ist und immer schon war!) ein wenig mehr hermacht. Man nennt
das den Mehrwert der Kultur.
Zu diesem Mehrwert gehört auch, dass der, der sich seiner
Kultur sicher ist, selbstbewusst und, im Wortsinn, unverschämt
wird. Davon kann jeder Klassik-Impresario ein garstig Lied singen.
Dass Schönberg beim Kunden einen Gesichtsausdruck hervorruft,
der an heftige Zahnschmerzen erinnert, hat schon Tradition. Ein
Lutoslawski-Konzert wird mit existenzgefährdendem Murren quittiert,
dafür führt „Blechschaden“ in den Gehörgängen,
begleitet von Faxen auf der Bühne, zu wunschloser Seligkeit.
Es gab eine Zeit, da wollte sich der Klassikfreund, zumindest nach
außen hin, durch nichts und niemanden in seiner Konzentration
stören lassen. Jetzt will er Abwechslungen jeder Art (das Auge
hört mit!) und Atmosphäre.
Ein Schlosskonzert ist deshalb, selbst wenn man sommers im Park
vielleicht nur fürchterlich nass wird, auf jeden Fall besser
als ein Konzert ohne Schloss. Und weil zu einem Schlosskonzert selbstverständlich
auch Schlosspreise gehören, will der Kunde für sein vieles
schönes Geld auch untertänigst seinen Geschmack, wie immer
er auch beschaffen sei, bedien(er)t wissen. Natürlich ist einem
das beste Budapester Streichquartett für einen solchen Anlass
gerade recht, aber doch bitte nicht mit Beethoven oder Bartók,
sondern lieber mit Schmalz fürs Herz und Rhythmen für
den Fuß. Längst vorbei sind die Zeiten, als der Kunde
sich vom Kritiker, der nicht einmal bezahlt!, einschüchtern
ließ. Der Kunde mit Kultur lässt die selbstverschuldete
Unmündigkeit hinter sich und findet völlig ungeniert gut,
was ihm gefällt.
Die Fernseh- und Radiosender schließen sich, mit demokratischem
Respekt vor der Quote, dieser Entwicklung an. Wer heute noch, wie
einst ein durchaus populärer Politiker, sagen würde: „vox
populi, vox Rindvieh“, wäre nicht nur seinen Job, sondern
auch seine Reputation los. Zu den Merkwürdigkeiten der neueren
Zeit gehört es, dass man sich scheut, dem Publikum das zu bieten,
was der Sendername verspricht. Bei einem 24-Stunden-Klassik-Radio
bekommt man deshalb nur noch in Ausnahmefällen ganze Werke,
dafür lieber Schnittchen und Häppchen oder gleich Jazz
und griechische Folklore. Das Misstrauen dem eigenen Produkt gegenüber
findet sich freilich in allen Bereichen. So sendet der ZDF-Theater-Kanal
nur ausnahmsweise Theaterstücke und stattdessen lieber leichte
Hollywoodkomödien, weil die fürsorglichen Programmmacher
erwarten, dass das der Theaterfreund im Grunde lieber sieht. MTV
findet Musik-Clips auf die Dauer öde und behilft sich deshalb
mit spannenden Dating-Shows und aufregenden Experimenten für
Pyromanen aller Art. Und selbst das Deutsche Sport Fernsehen übertrug
des Nachts lieber Porno-Clips; vielleicht, weil David Finchers „Fight
Club“, auch das ja ein Film mit unübersehbarem Körperertüchtigungsbezug
und deshalb DSF-tauglich, in diesem Zusammenhang von „Sportficken“
sprach.
Es gibt freilich auch Redakteure, die sich dem allgemeinen Trend
mutig entgegenstemmen und unter harmlosen Titeln wie „Après-midi“,
die verdauungsfördernde Musikschonkost zu versprechen scheinen,
mit einer geradezu Hegelschen List der Vernunft ganze Bruckner-Symphonien
verstecken. Noch komplizierter liegt der Fall bei Elke Heidenreich,
von der erst kürzlich der „Spiegel“ (innig ironisch?
Man kann nicht sicher sein!) behauptete, jede ihrer halbstündigen
„Lesen!“-Sendungen hebe den Volks-IQ um zehn Prozent.
Frau Heidenreich ist eine Kultur-Radikale im halböffentlichen
Dienst, die, seit sie in etwa das Alter des alten Max Frisch erreicht
hat, ohne weiteres behauptet, Erfahrungen mache sie nur noch, wenn
sie lese. Zur „corporate identity“ der Elke Heidenreich
und ihrer Sendung gehört also die kulturelle Rundumversorgung
mit imperativischem – Kant hätte gesagt: kategorischem
– Anspruch: „Lesen!“ Ihre Ambition als eigenständige
Frau geht aber dahin, nicht ausgerechnet das zu lesen, was eh schon
alle lesen, sondern Bücher zu entdecken, die (angeblich) noch
keiner kennt. Und weil in jedem Vorleser, spätestens seit Marcel
Reich-Ranicki weiß man das, ein kleiner Diktator steckt, will
man seine Entdeckungen auch zu den Entdeckungen aller anderen machen.
Die Buch-Charts künden dann von den volkspädagogischen
Triumphzügen des Elke-Kanons, der gerade bis zur nächsten
Sendung Gültigkeit hat.
Wer durch permanentes Lesen genügend kulturelles Kapital angesammelt
hat, kann endlich auch das tun, was jeder Schlosskonzert-Besucher
schon lange macht: die Wahrheit aussprechen, so wie sie im eigenen
(ein)gebildeten Gehirn beheimatet ist. Deshalb richtete Elke Heidenreich
kürzlich ganz ungeniert und vom schön-charmanten „Zeit“-Chefredakteur
Giovanni di Lorenzo anfeuernd weiter enthemmt, ein Kettensägenmassaker
an einem, wie sie meint, unmöglichen, weil nicht elkekompatiblen
Kanon an. Schon ihr großes Vorbild hatte ja seinen Unwillen
gegen den „Mann ohne Eigenschaften“ öffentlich
erklärt und ex cathedra behauptet, jeder angebliche „Ulysses“-Leser
sei tatsächlich nur ein schamloser Lügner. Elke befindet
nun, von Giovanni heftig benickt, Proust sei ein schlimmer Zeiträuber,
sie habe ihn nie auch nur annähernd zu Ende gelesen und deshalb
brauche es auch kein anderer tun. Ist erst der Kanon beseitigt,
vermehren sich die Kulturmenschen wie die Kaninchen, sitzen im Park,
schlürfen ihren Roten, hören den Zigeunerweisen zu, die
der angenehme Westwind vom Kastanienbaum herüberträgt
und schauen, wenn sie sich noch ein wenig hungrig fühlen, via
Handy-Display der leidenschaftlichen Leserin Elke beim Bücherverbrennen
zu.