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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 17
54. Jahrgang | November
Hochschule
Kompositionsstudium in post-postmoderner Zeit
Wie positioniert sich die jüngere Komponistengeneration?
· Von Claus-Steffen Mahnkopf
Heute Komposition studieren und Komposition lehren, darüber
wird öffentlich nicht diskutiert, obwohl die Krise offensichtlich
ist. Immer mehr Stellen werden abgebaut, umgewandelt oder bleiben
absichtlich lange vakant. Dreieinhalb Jahre nach der Ausschreibung
der Nachfolge für Hans Zender an der Musikhochschule Frankfurt
wird mitgeteilt, die Stelle würde nicht besetzt. Nach noch
längerer Vakanz ist nun die Lachenmann-Stelle in Stuttgart
ausgeschrieben: als limitierte Stelle im doppelten Sinne, auf 60
Prozent und 6 Jahre befristet. Unabhängig von solchen Einzelfällen
wird das Fach Komposition im Sinne eines freien, kreativen künstlerischen
Faches ohne kommerzielle Absichten immer mehr in Frage gestellt.
Man kombiniert es nicht selten mit Film, Elektronik, Multimedia
und sonstig Fremdem, so dass die Zahl der Plätze, an denen
man das Komponieren studieren kann, drastisch abnimmt. Hinzu kommt
ein Generationswechsel: Prominente, erfolgreiche, attraktive Lehrerpersönlichkeiten
sind in den letzten Jahren in Pension gegangen – Nicolaus
A. Huber, Zender, Lachenmann, schon vor längerer Zeit Klaus
Huber –, Adressen, die auch weltweit aufgesucht wurden, weil
man wußte, wofür diese Leute standen. Welches Profil
haben aber diejenigen, die übrig bleiben, diejenigen, die nachrücken?
Leute, die jetzt zwischen 40 und 50 Jahre alt sind und das Ruder
in die Hand nehmen, also mitverantwortlich sind für das, was
aus der Musik wird? Es ist dringend nötig und längst überfällig,
darüber zu diskutieren, wie sich diese neue Generation positioniert,
welche Ziele sie verfolgt, welche Werte für sie wesentlich
sind, welches Berufsbild sie besitzt, auf welche Art sie unterrichtet,
was sie weitergeben will und wie sie das tut – und das heißt
auch und leider ganz banal: wer überhaupt in die engere Wahl
genommen wird. Ich nehme den Ruf auf den Kompositionslehrstuhl an
der Musikhochschule Leipzig zum Anlass, zu diesen Fragen Stellung
zu beziehen.
Ruf
nach Leipzig: Claus-Steffen Mahnkopf. Foto: Charlotte Oswald
Die Zeit drängt, denn ein dreifacher Wandel ist zu beachten.
Zum einen unterliegen die Karrieren von Komponisten im Kunstsystem
immer mehr ökonomischen Denkweisen, zum anderen – und
das ist die gute Nachricht – sind mit dem Anbrechen einer
post-postmodernen Zeit, die man „Zweite Moderne“ zu
nennen sich angewöhnte, grundlegende Fragen nach Handwerk,
Technik, Ästhetik, Sinn und Unsinn der Neuen Musik, nach Fortschritt
und Kunst-Wahrheit wieder erlaubt. Schließlich bricht die
Globalisierung auf uns in Europa ein: Dieser Raum wird seiner Geschichte
und vor allem seiner Infrastruktur wegen noch lange Zentrum bleiben,
ob von ihm freilich Leitlinien – oder nicht vielmehr Orientierungen
– ausgehen sollten, ist eine ernstzunehmende Frage.
Das Problem, was es heißt, Komposition zu unterrichten,
stellt sich heute doppelt. Einmal durch den Pluralismus, der seit
Jahrzehnten zu einem selbstverständlichen Teil der Neuen Musik
wurde. Die Zeiten, da wenige Avantgardisten sagten, wo es langgeht,
so paradigmatisch wie Stockhausen in den 60er-Jahren, sind längst
vorüber und wären überdies auch nur unproduktiv.
Immer wieder wird, von Unsicheren oder Ungläubigen, gefragt,
ob man Komposition überhaupt unterrichten könne. Diese
Frage ist nicht ganz unberechtigt. Im Gegensatz zum Instrumental-
oder Gesangsunterricht ist das Handwerk nicht eindeutig bestimmbar.
Tonleitern in allen Geschwindigkeiten und Dynamikstufen ebenmäßig
spielen zu können, darüber wird man nicht streiten. Was
wäre aber das Äquivalent im Fach Komposition, sofern dies
gerade nicht historisch, sondern als radikale Gegenwart verstanden
wird? Paradox gesagt: Will das Komponieren gegenwärtig sein,
dürfen keine konkreten Techniken gelehrt werden. Sondern –
und das haben die besten Lehrer des 20. Jahrhunderts vorexerziert
– es geht um kompositorisches Denken: Klarheit in der Konzeption,
Klangsinn, Kenntnisse der Klangkörper, die Fähigkeit,
sich das eigene Material zu erarbeiten, eine angemessene Notation
zu finden, eine eigene Sprache, um über die Dinge zu sprechen,
Formgefühl und ein Gespür für Zeit. Ob der Student
eher ein Melodiker, ein Rhythmiker, ein Klangmagier oder ein Harmoniker
ist, ist bereits eine nachgeordnete Frage. Denn zu einer eigenen
musikalischen Sprache zu finden, das kann der Student nur selber,
der Lehrer muss ihn unterstützen, will heißen: ihn behutsam,
aber zuweilen auch hart mit sich selber konfrontieren. Es geht dem
Studenten um Folgendes: viel zu kennen und zu wissen, aber dann
das Eigene daraus zu filtern und es mit genuin Kreativem –
Neuem – zu kombinieren.
Insofern ist – und das ist meine tiefe Überzeugung
– der Kompositionsunterricht zu einem großen Teil Empathie.
Der Lehrer sollte nur in einem tiefen Respekt vor dem Gegenüber
agieren. Das schafft nur der, welcher mehr an die Musik als an Heilslehren
glaubt, wer bereit ist, sich – immer wieder von neuem –
zu öffnen und sich selber in Frage stellen zu lassen, wer sich
auch außerhalb der Hochschule bewegt und wer, altmodisch ausgedrückt,
„gebildet“ ist.
Integration und Ausstrahlung
Letztlich ist der Kompositionslehrer (fast) alles. Er ist Künstler
und Musiker, der Praktiker und der Theoretiker, der Historiker und
der Visionär, der Wissenschaftler und der Mann der Spekulation,
er ist der strenge Lehrer und der Psychologe, nicht zuletzt ist
er Ansprechpartner für alle möglichen Probleme aus dem
Leben. In den 15 Jahren, in denen ich unterrichtete, festigte sich
die Einsicht, dass jeder Kompositionslehrer eine Art Psychoanalyse
durchlaufen haben sollte, so wie der Analytiker eine Lehranalyse
hinter sich hat, um nicht seine eigenen Probleme auf den Patienten
zu übertragen. Denn vergessen wir nicht: Wenn am Ende des Studiums
der Student wie der Lehrer schreibt, dann stimmt etwas prinzipiell
nicht.
Der Kompositionslehrer an einer Hochschule hat meines Erachtens
im Wesentlichen zwei Aufgaben zu erfüllen: Integration nach
innen und Ausstrahlung nach außen. Er ist in vielfältiger
Hinsicht mit den übrigen Fachrichtungen vernetzt, so dem Bereich
Tonsatz/Theorie, denn Komposition unterrichten ist immer auch eine
Beschäftigung mit aller Musik und damit mit deren theoretischen
und tonsetzerischen Grundlagen, so mit dem Bereich Wissenschaft,
und natürlich mit dem Bereich der Praxis, der instrumentalen,
sängerischen und dirigierenden Realisierung. Daher sollte das
im Studium Komponierte auch in Konzerten erklingen. Der Kompositionslehrer
ist aber nicht nur Vertreter seiner Lehrinhalte. Er sollte ein Künstler
sein, der auch außerhalb wirkt und in gewisser Weise an hervorgehobener
Stelle die zeitgenössische Musik vertritt, die immer stärker
im kulturellen Diskurs legitimiert, das heißt auch einfach
nur erklärt werden muss. Insofern ist der Kompositionslehrer
heute kaum noch ein einsamer Künstler. Er unterrichtet nicht
nur Komposition, er ist – etwas emphatisch ausgedrückt
– Erzieher in Sachen Kreativität. Nur wenn er das nach
außen glaubwürdig vertritt, wird ihm jener Kredit gewährt,
ohne den es in meinen Augen heute „klassische“, also
Kunst-Musik insgesamt immer schwerer hat.
Orientierung am Meister
Ich persönlich versuche mich in meiner Unterrichtstätigkeit
an den Meistern der Vergangenheit zu orientieren. Zuerst ist Schönberg
zu nennen: die Strenge und Genauigkeit seines Unterrichtens und
seine tiefe Verwurzelung in der Tradition. Was von ihm indes nicht
übernommen werden kann, sind das Sendungsbewusstsein und der
autoritäre Stil. Olivier Messiaens umfassende musikalische
Bildung und Offenheit, die vielleicht daher rührt, dass er
erst 1966 eine Kompositionsklasse führen durfte. Von Klaus
Huber die Passion des Lehrers, die dahin führt, auch denen
eine Chance zu geben, denen unter mehr oder weniger strengen akademischen
Kriterien keine Chancen eingeräumt würden. Schönberg
war der Mittler zwischen Tradition und den anderen Planeten, Messiaen
wusste die Serialisten genauso wie die école spectrale zu
unterrichten, und Hubers „Freiburger Schule“ setzte
Maßstäbe für den prosperierenden Neue-Musik-Diskurs.
Gleiche Augenhöhe
Wer heute Komposition erfolgreich unterrichten will, muss die
Studenten – deren kultureller, das heißt geografischer
und musikalischer Hintergrund unterschiedlicher gar nicht gedacht
werden kann – in ihrer ganzen Individualität ernst nehmen.
Eine Schule begründen oder die Denkweise des Lehrers implantieren
zu wollen, wäre fatal und auch pädagogisch widersinnig:
Es geht darum, ein Klima zu schaffen, das es erlaubt, dass „Schüler“
und „Lehrer“ sich auf gleicher Augenhöhe begegnen.
Dialektisch heißt das aber: Der Lehrer muss über eine
gefestigte Position, ein eigenes geschärftes Profil verfügen,
man muss wissen können, woran man bei ihm ist – nur wenn
er souverän ist, kann er von seinem Eigenen abstrahieren.
Bestimmte Standards im Komponistendiskurs wurden im 20. Jahrhundert
durchgesetzt: technische Aufgeklärtheit, konzeptuelle Reflektiertheit
und Praxisnähe. Das ist, zumindest prinzipiell, selbstverständlich.
Es stellt sich somit die Frage, ob heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts,
mit dem In-die-Jahre-Kommen meiner Generation etwas Weiteres hinzutreten
sollte. Ich denke „ja“ und meine eine umfassende Kulturkompetenz
aus einer vertieften ästhetischen Reflexion, einem humanistischen
Kulturbegriff, aus sozialer Verantwortung und globaler Sensibilität.
Vielleicht sollte man sich heute, da nach dem zweiten „Ende
der Kunst“ (erst Hegel, dann Arthur Danto) die Kunst nichtsdestotrotz
weitergeht, der Renaissance besinnen, die in Italien den bis heute
weltweit dichtesten Kulturraum ausprägte. Die Künstler
damals waren nicht nur Meister ihres Faches, sie waren Wissenschaftler,
Theoretiker, Visionäre, Poeten, Politiker im griechischen Sinne
– und sie waren Menschenfreunde, glaubend an die Verbesserbarkeit
der Menschheit. Sie sind unsere Vorbilder.
Was sollte – idealiter – ein Student am Ende seines
Studiums „können“? Es sollte in ihm eine breite
und vor allem tiefe Basis gelegt worden sein, auf die gestützt
er in seinem langen und krisenreichen künstlerischen Werdegang
über ein ausreichendes Widerstandspotential verfügt, um
sich von allen Moden und zweideutigen Angeboten freihalten, vor
allen zerstörerischen Urteilen schützen und davor bewahren
zu können, dass er es sich selber zu leicht macht, kurz: eine
Basis, um dieses schwierige künstlerische Leben schöpferisch
und mit einem Ethos für die Sache zu leben.