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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 13-14
54. Jahrgang | November
Kulturpolitik
Von der Stille zur Musik
48. Internationales Festival für Neue Musik „Warschauer
Herbst“ · Von Daniel Cichy
Nachdem der letztjährige Warschauer Herbst ein eklektisches,
aber interessantes und repräsentatives Repertoire präsentiert
hatte, schlug Festivaldirektor Tadeusz Wielecki dem Publikum diesmal
ein attraktives, kohärentes und dazu modisches Musikprogramm
vor. Der Osten – näher und ferner – kann ein Topthema
nicht nur in der Ökonomie der Weltmärkte, sondern auch
in der Kultur sein. Es ist ja nichts Neues, dass Europäer diese
andere Welt mit ihren Wertehierarchien und Gesellschaftsregeln,
mit ihrer vieldimensionalen Philosophie und ihren geheimnisvollen
Religionen fasziniert.
Deutsch-polnisches
Musikforum beim Warschauer Herbst 2005: gelungene Außernpolitik.
Foto: DMR
Vor diesem Hintergrund wurde in Warschau Musik von Qigang Chen,
Xiaoyong Chen, Xiaosong Qu und Xu Yi aus China, von den in Süd-Korea
geborenen Isang Yun, Younghi Pagh-Paan und Unsuk Chin sowie von
japanischen Komponisten wie Toru Takemistu, Joji Yuasa, Isao Matsushita,
Kazuhiko Suzuki und schließlich Toshio Hosokawa präsentiert.
Diese ganz eigene Musikwelt, mit Stille zwischen den Klängen,
breitem emotionalem Atem, Einzeltönen, Klangfarben-Bordunen,
um die ganze Stücke oft gebildet sind – all das macht
großen Eindruck.
Toshio Hosokawa bildet in seinen Werken eine Metapher, in der die
Solisten Spiegelbilder von Menschen sind, während das Orchester
den Kosmos repräsentiert. Die Verbindung zwischen Individuum
und Natur kann man etwa in „Voyage IV – Extasis“
für Akkordeon und Ensemble oder in „Re-turning. ‚In
Memory of Kunio Tsuji‘“ für Harfe und Orchester
beobachten. In „Utsurohi-Nagi“ für shô und
Streichorchester mit Harfe, Celesta und Schlagzeug stellt der Komponist
die chinesische Konzeption von Geist – „ch’i“
– vor.
Das altchinesische Instrument Shô ist für Hosokawa ein
besonderes Medium: der Ton entsteht sowohl bei der Ein-, als auch
bei der Ausatmung – eine Illustration des Ur-Prozesses von
Leben und Tod („Cloudscapes – Moon Night“ für
Shô und Akkordeon). Die Interpreten – Teodoro Anzelotti
(Akkordeon), Mayumi Miyata (Shô), Naoko Yoshino (Harfe), das
Polnisch-Deutsche Ensemble unter Rüdiger Bohn sowie das Symphonieorchester
der Nationalen Philharmonie unter Antoni Wit und Takuo Yuasa –
haben einen großartigen Beitrag zur Entdeckung von Hosokawas
Musik in Polen geleistet.
Die Musik aus Ostasien blieb noch lange Zeit in Köpfen der
Zuhörer, die nicht nur zur alten Garde des Festivalpublikums
gehörten, sondern zu einer neuen Gruppe junger Leute, die keine
musikalische Ausbildung besitzen und trotzdem gerne den Warschauer
Herbst besuchen. Problematisch dagegen die Musik der polnischen
Nachbarn: von den Komponisten aus der Ukraine, Weißrussland
aber auch aus Russland hörte man in Warschau entweder eine
rückwärtsgewandte, eklektische Musik oder die Sprache
der Zweiten Avantgarde, aber in epigonischem Sinn – „Wie
ist es möglich“ von Marina Wojnowa, „Woman and
Birds“ von Edison Denisow oder langweilige „Moje –
jej“ von Eugeniusz Poplawski, oder postmodernistische, humorvolle
Spiele, minimalistisch in ihrer kompositorischen Mitteln und leider
sehr oft zu ermüdend – „vnik-ton experience“
von Wladimir Nikolajew oder „Get Out!!!“ von Nikolaj
Korndorf. Nur das Können des Moscow Contemporary Music Ensemble
und der Seattle Chamber Players retteten die Konzerte.
Erstaunlich frisch und einfach schön klang die Musik, die
man schon zur Klassik des 20. Jahrundert zählen kann. Die „Amériques“
von Edgar Varèse und die „Notations I–IV, VII“
von Pierre Boulez wurden durch das Nationale Rundfunksymphonieorchester
unter Christopher Lyndon-Gee, „Répons“ von Boulez
zum ersten Mal in Polen aufgeführt. Die Solisten des Court-Circuit
Ensembles und die Musiker des Orchesters der Neuen Musik aus Kattowitz
unter François-Xavier Roth spielten dieses schwierige Werk
in einer großen Sporthalle mit grandiosem Verständnis.
Gemeinsam mit dem Deutschen Musikrat iniziierten die Organisatoren
eine polnische Premiere von „Landschaft mit entfernten Verwandten“,
einer Oper von Heiner Goebbels. Ein bedeutendes Ereignis auf der
polnischen Bühne. Dazu noch die Musiker aus Ensemble Modern!
Einfach fantastisch.
Es gab in diesem Jahr auch Enttäuschungen. „Requiem
für Larissa“ von Walentin Silvestrow ist ein Werk, das
zu persönlich ist, dass die richtige Kritik dazu geschrieben
werden könnte. Der Komponist schuf das „Requiem“
nach dem Tod seiner Frau. Etwas anderes ist es mit „Fall and
Resurrection“ von John Tavener, das während des Finalkonzertes
aufgeführt wurde. Das aufgeblasene, pompöse, aggressive,
freche und musikalisch leere Werk sollte den Organisatoren eine
Warnung sein, in ihrer Planung genug Vorsicht walten zu lassen.
„Anfangs oppositioneller Unruheherd und Demonstrationsort
einer neuen polnischen Musik, ist der Warschauer Herbst unter Argwohn
und Skepsis, offizieller Ablehnung und vielleicht auch stillem Neid
östlicher Beobachter zu zentraler Bedeutung herangewachsen.
Er wurde zum wichtigsten und lebendigsten Umschlagplatz für
Musikstücke, Kontakte und Informationen in einer geteilten
Welt.“ Dieser Kommentar von Ulrich Dibelius („Moderne
Musik nach 1945“, München 1998) ist aufgrund einer veränderten
politischen, aber auch ästhetischen Situation nicht mehr aktuell.
Dennoch verliert heute das Festival seine Ur-Funktion nicht. Der
Warschauer Herbst ist immer noch der einzige Platz in Osteuropa,
wo neue musikalische Ideen aus der ganzen Welt präsentiert
werden.