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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 5
54. Jahrgang | November
Magazin
Erst kommt die Arbeit, dann die Kultur
Essen möchte Europas Kulturhauptstadt 2010 werden
Essen ist leicht zu unterschätzen. Das hat im Verlauf der
Bewerbung zur „Kulturhauptstadt 2010“ zunächst
Bochum erfahren, als die „Blume im Revier“ (Herbert
Grönemeyer) – im Februar 2004 – im ruhrgebietsinternen
Wettbewerb der größeren Nachbarstadt den Vortritt lassen
musste. Aber auch Köln und Münster haben das erfahren,
als sich Essen – im Mai 2004 – in der Konkurrenz um
den nordrhein-westfälischen Kandidaten gegen die zweitausend
Jahre alte Kulturmetropole und die umtriebige Universitätsstadt
durchsetzte, und das mit fünf zu null Stimmen einer unabhängigen,
von der Landesregierung eingesetzten Jury. Und dann haben das auch
Braunschweig, Bremen, Halle, Karlsruhe, Kassel, Lübeck, Potsdam
und Regensburg erfahren, als Essen (gemeinsam mit Görlitz)
ihnen – im März 2005 – auf nationaler Ebene das
Nachsehen gab.
Das
Chicago Symphony Orchestra unter Pierre Boulez. Foto: Philharmonie
Essen
Essen gibt sich gerne als eine alte Stadt. Erst 2002 feierte es
sein 1150-jähriges Jubiläum: 852 hat Bischof Altfrid von
Hildesheim hier ein freiweltliches Kanonissenstift für die
Töchter des sächsischen Hochadels gegründet. Diese
Wurzel aber findet so wenig Beachtung wie die Goldene Madonna, die
von Äbtissin Mathilde (971–1011) bei einem unbekannten
Kölner Meister in Auftrag gegeben wurde und als älteste
vollplastische Marienfigur des Abendlandes den Essener Domschatz
überstrahlt. Denn Essen gilt als eine junge Stadt, die groß
geworden ist mit der Industrialisierung und von Alfred Krupp (1812–1887)
mit dem von seinem Vater Friedrich 1811 gegründeten Unternehmen
zur Kanonenschmiede und mächtigsten Gussstahlfabrik der Welt
ausgebaut wurde. Von 7.700 im Jahr 1871 explodierte ihre Einwohnerzahl
bis 1900 auf 120.000, bis 1925 auf 470.000 und bis 1933 auf 650.000.
Ihren Höchststand erreichte sie 1961 mit 750.000, seitdem schrumpft
Essen und hat heute 585.000 Einwohner. Mit Krupp und der Kriegsindustrie
wird die sechstgrößte deutsche Stadt noch immer identifiziert,
und das überlieferte Image der fördernden Bergwerke und
rauchenden Schlote beginnt sich, obwohl die letzte Zeche 1986 geschlossen
wurde, nur ganz allmählich – und je weiter weg, desto
zäher – aufzulösen.
Erst kommt die Arbeit, dann die Kultur: Das gilt im Ruhrgebiet
auch historisch. Sein erstes Stadttheater wurde 1892 in Essen eröffnet,
wo es der Großindustrielle Friedrich Grillo seiner Vaterstadt
zum Geschenk machte. „Schon“ 1864 hatte ein gemeinnütziger
Bürgerverein mit dem „Saalbau“ ein städtisches
Konzerthaus geschaffen, das städtische Kunstmuseum folgte 1906
und avancierte 1922 durch den Kauf der Sammlung des Hagener Mäzens
und Philanthropen Karl Ernst Osthaus zu einer ersten Kunstadresse.
Das Revier und gerade auch Essen, seine größte Stadt,
sind schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts keine kulturlose Gegend
mehr, doch die Arbeit ging vor und bestimmte mit ihren großen,
die Landschaft umwälzenden Industrieanlagen Selbst-darstellung
und Außenwahrnehmung.
Seit dem Niedergang der Montanindustrie beginnt sich Essen zu
wandeln, in den letzten zwanzig Jahren hat keine andere Stadt im
Westen kulturell so weit aufgeholt: mit dem Museum Folkwang und
dem Folkwang Tanzstudio, mit der 1972 gegründeten Universität
und dem Kulturwissenschaftlichen Institut, mit dem Domschatz und
der Lichtburg, dem wohl schönsten Kinopalast der 20er-Jahre
in Deutschland, vor allem aber mit der Aalto-Oper, die fast dreißig
Jahre nach dem Entwurf des finnischen Architekten 1988 errichtet
wurde und unter Stefan Soltesz überregionale Ausstrahlung gewonnen
hat. Der Strukturwandel ist in Essen weit fortgeschritten: Ein „Ausbildungsbürgertum“
ist nachgewachsen, und auf das produzierende Gewerbe entfallen nur
noch 20 Prozent der Arbeitsplätze, 80 Prozent liegen im Dienstleistungsbereich.
Nicht mehr Kohle und Stahl bilden die Säulen der Stadt, sondern
Energiekonzerne und Branchen der Medizintechnik. Zehn der hundert
größten deutschen Unternehmen haben ihren Sitz in Essen.
Doch Essen bewirbt sich nicht allein um den Titel „Kulturhauptstadt
2010“, sondern als „Bannerträger“ für
das Ruhrgebiet, einen Ballungsraum mit 5,3 Millionen Einwohnern,
der 11 kreisfreie Städte und 4 Kreise mit 53 Kommunen umfasst.
Und schon weitet sich das Profil der Bewerbung: um das Schauspielhaus
Bochum und das Wilhelm Lehmbruck Museum in Duisburg, um die Industriemuseen
in Dortmund und Oberhausen, das Bergbaumuseum in Bochum und das
Quadrat in Bottrop, das Theater an der Ruhr in Mülheim und
das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen, um die Ruhrfestspiele
und die Ruhrtriennale. Auch um das Tanztheater von Pina Bausch?
Nein, denn Wuppertal gehört, auch wenn hier die Wiege der Industrie
steht, nicht zum Ruhrgebiet, doch sind Pina Bausch wie auch mehrere
ihrer Tänzer als ehemalige Schüler und Lehrer dem Folkwang
Tanzstudio in Essen verbunden.
Das Ruhrgebiet hat anderthalbmal so viele Einwohner wie Berlin,
fünf Opernhäuser (Berlin nur drei), sechs Universitäten
(Berlin nur drei), drei Vereine in der Bundesliga (und Schalke 04
steht besser als Hertha): Das Ruhrgebiet ist Deutschlands größte
Stadt. Stimmt, aber stimmt auch nicht. Denn noch ist es nicht soweit,
noch ist die – heftig diskutierte – „Ruhrstadt“
Chimäre und Chance, noch handelt es sich „nur“
um eine Ansammlung von Städten, die vielfach daran gehindert
wird, sich als Einheit zu verstehen. Zerschnitten und zugleich gefesselt
in drei Regierungsbezirke, zwei Landschaftsverbände, zwei SPD-Parteibezirke
und drei WDR-Regionalstudios, ist das Revier eine Agglomeration,
aber keine Metropole.
Was ihm dazu fehlt, ist (nicht nur) ein Zentrum. Das Ruhrgebiet
hat Defizite an Urbanität und kreativen Milieus, vor allem
aber an Organisationsformen, die die gemeinschaftlichen Aufgaben
– der Verkehrs- wie der Kulturpolitik, des Flächenmanagements
oder der Wirtschaftsförderung – angehen und wirksam kommunizieren.
Woran es ihm am meisten gebricht aber ist Selbstbewusstsein. Seine
kulturelle Ausstrahlung ist, gemessen an seiner Größe,
eher gering, immer noch überdecken die Klischees und die Relikte
von Kohle und Stahl die mühsame Realität des Strukturwandels.
Das Revier gleicht einem schlafenden Riesen. Ihn wach zu küssen
hat die Kulturhauptstadtbewerbung bereits geschafft und damit einen
Prozeß in Gang gesetzt, der die Kirchturmpolitik zu überwinden
verspricht. Bisher nämlich sind die Kommunen mit ihrem Kulturangebot
als Konkurrenten statt als Kooperationspartner aufgetreten, und
so besteht vieles mehrfach und unverbunden nebeneinanderher. Inzwischen
wächst, wo Austausch und Zusammenarbeit lange als kommunalpolitischer
Verrat galten, die Bereitschaft zu Absprachen, gar zur Arbeitsteilung.
Die Pyramide hat eine große Breite, aber nur eine schmale
Spitze. Diese Relation beginnt sich allmählich zu verändern,
verstärkt auch durch Finanzdruck, Bevölkerungsschwund
und ein nachwachsendes Publikum, das sich selbstverständlicher
über die Stadtgrenzen hinwegsetzt, wobei die Kulturhauptstadtbewerbung
als Klammer wirkt.
Ihr Erfolg hat die Region bereits ein gutes Stück vorangebracht
und zu ihrer Einheit beigetragen. Immer mehr Kommunen haben sich
angeschlossen und beteiligen sich mit Projekten. Auch die „Flügelstädte“,
Dortmund im Osten und Duisburg im Westen, die sich mehr nach außen,
nach Westfalen respektive an den Niederrhein ausrichten, ziehen
mit: Dortmund mit einem Projekt zur Medienkunst, Duisburg mit Kunst
im öffentlichen Raum.
Essen ist nicht zu unterschätzen. Nur vielleicht vom kleinen
Görlitz nicht, gegenüber dem es sich erstmals in der Favoritenrolle
befindet. Doch auch wenn es dabei, womit nicht zu rechnen ist, den
Kürzeren zieht, wird der Impuls, den die Kulturhauptstadtbewerbung
angestoßen hat, die Kulturlandschaft des Ruhrgebiets umbauen
und sie schärfer profilieren. Gerade die Hinterlassenschaften
der alten Industrie haben ihr, vorbereitet durch die Internationale
Bauausstellung Emscher Park 1989 bis 1999, neue, unverwechselbare
Räume eröffnet.
Kulturhauptstadt wird Essen nur für ein Jahr, aber was die
Bewerbung angeregt hat, könnte den erwachten Riesen in die
Lage versetzen, seine Muskeln spielen zu lassen. Und die Kultur
könnte dabei, gegenüber der allgemeinen Entwicklung, den
Vorreiter spielen. Der Weg ist das Ziel.