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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 4
54. Jahrgang | November
Magazin
Belebt die Konkurrenz das Geschäft?
Ein feuilletonistischer Rückblick auf ein Jahr Philharmonie
Essen
Nicht weit von Essen liegt im dicht besiedelten Ruhrgebiet Dortmund:
Dort wurde im September des Jahres 2002 das neue Konzerthaus eröffnet.
Und schnell trennten sich die Stadt und der Eröffnungsintendant
Ulrich Andreas Vogt, ohne den das ganze Projekt erst gar nicht entwickelt
worden wäre. Die Politiker mäkelten an den Auslastunsgzahlen
herum und verpflichteten Benedikt Stampa aus Hamburg. Wenn solches
Anspruchsdenken der Maßstab der musikalischen Dinge sein sollte,
hätte Essens Philharmonie-Chef Michael Kaufmann recht schlechte
Karten – und ein Problem. Seine erste Spielzeit verzeichnet
genau 264.773 Konzertbesucher. Die Auslastung beträgt sicher
nicht 70 Prozent. Deutlich darunter. Vogt musste gehen, weil er
nicht die Traumquote von 85 Prozent erreichte.
Jazz
in der Philharmonie: Carla Bley. Fotos Seite 3 und 4 : Philharmonie
Essen
Diese Zahlen sagen indes nicht wirklich viel. Ein neues Haus benötigt
einfach eine Anlaufzeit von gut drei Jahren. In Dortmund stehen
übrigens auch viel weniger Plätze zur Verfügung;
in Essen muss man im großen Krupp-Saal immerhin 1906 Plätze
füllen, um ausverkauft zu sein, was nicht eben häufig
der Fall ist. Die Ruhrregion, die früher nur die mittlerweile
abgerissene Mercatorhalle in Duisburg als angemessenes Konzertforum
besaß und von vielen Weltstars zwangsläufig gemieden
wurde, wird nun nach und nach zur vitalen Musikregion. Die Bochumer
Symphoniker wünschen sich nichts so sehnsüchtig wie ein
eigenes, neues Haus. In Duisburg baut man eine neue Halle, um das
bedauernswerte Orchester aus dem dumpf tönenden Musicalhaus
zu befreien.
Belebt Konkurrenz das Geschäft? Das ist in diesem Falle stark
zu bezweifeln, denn es gibt ja auch noch eine staunenswerte Zahl
an Opernhäusern – die Essener Philharmonie liegt unmittelbar
neben dem vornehmen Aalto-Theater – in diesem von Arbeitslosigkeit
gezeichneten Gebiet, das auf Strukturwandel setzt, setzen muss.
Es gibt kleine Städte, die unter der Macht der großen
Musik-Städte spürbar leiden. Da gibt’s bereits traurigen
Besucherschwund. Da sieht die Zukunft trübe aus.
Michael Kaufmann, zuvor an der Kölner Philharmonie tätig,
hat in seiner ersten Spielzeit vor allem gezeigt, dass er nicht
dem Mainstream folgt, dass er mit Anspruch einen wichtigen Musikstandort
schaffen will. Sein fordernder Schönberg-Zyklus wäre zweifellos
nicht ein Muss gewesen, setzte aber ein deutliches Zeichen: Hier
geht es um Gehaltvolles. Interpreten wie das Tonhalle Orchester
Zürich mit Michael Gielen, das Ensemble Modern, das Auryn-Quartett
oder das SWR Sinfonieorchester, ebenfalls unter Gielen, waren bei
diesem großen Festival, das nun sicher kein Publikumsrenner
war, Garanten für gewissenhafte Deutungen. Und es waren auch
hier die Orchester der Region eingebunden. Die Duisburger unter
Darlington oder die Bochumer unter Sloane, der nun übrigens
seinen Mahler-Zyklus weiter ausbauen wird.
Natürlich gastieren in Essen nun auch die Stars der Klassik-Szene,
die sich in Berlin, Hamburg oder München ein Stelldichein geben.
Partner der Philharmonie präsentieren gewissermaßen Meisterkonzerte.
Da kommen dann eben Kurt Masur und die feinen Londoner Philharmoniker.
Das Klavier-Festival Ruhr hat einen attraktiven Veranstaltungsort
hinzugewonnen. Dass Michael Kaufmann es geschafft hat, die amerikanischen
Big Five einzuladen, ist sicherlich eine Großtat. Pierre Boulez
und Chicago waren schon da. Gerade, zu Beginn der zweiten Saison,
kam Lorin Maazel mit den New Yorkern sogar für zwei Abende.
Die Spitzenpreise liegen dann bei solchen Highlights bei 145 Euro.
Auch das gehört zum Thema „Konkurrenz belebt das Geschäft“.
Irgendwann erschöpfen sich nämlich die finanziellen Mittel
bei jedem Musikfreund.
Dass Michael Kaufmann, dessen Etat von 6,5 Millionen Euro auch
durch Sponsorenhilfe auf sicherem Fundament steht, aber eben nicht
nur auf die Hochglanz-Klassik setzt, ist sein Verdienst. Der bereits
begonnene Mahler-Zyklus demonstriert ebenso wie Christoph Sperings
an der historischen Aufführungspraxis orientierter Beethoven-Zyklus
mit dem „Neuen Orchester“, dass Kaufmann die gestalerische
Konzentration liebt. Und auch die Residence-Künstler stehen
nicht für künstlerische Anbiederei. Der originelle HK
Gruber aus Wien, der die Rotterdamer wie die Essener Philharmoniker
dirigierte, der Geiger Frank Peter Zimmermann, der mit Marek Janowski
und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin gleich an drei Abenden
wesentliche Violinkonzerte der 20er-und 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts
präsentierte, der Grenzgänger Uri Caine und das Petersen
Quartett begleiteten die erste Saison des neuen Hauses. Michael
Kaufmann geht bei solchen Engagements natürlich nicht auf Nummer
Sicher. Er will der Termin-Beliebigkeit entgehen.
Sein Haus ist kein Zirkus Allerlei. Und das schlägt sich
dann selbstredend bei den Platzausnutzungen nieder.
Für Essen gilt, was auch für Dortmund hätte gelten
müssen: Man benötigt einen langen Atem, um Abo-Reihen
aufzubauen. Michael Kaufmann hat offenbar in Essen Rückendeckung.
Die Bewerbung zur europäischen Kulturhauptstadt 2010 ist auch
eine Verpflichtung zur Kontinuität. Und da gehört die
Philharmonie zu den Leuchttürmen.