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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 7-8
54. Jahrgang | November
Magazin
Kulturmetropole Ruhrgebiet
Theo Geißler im Gespräch mit Oliver Scheytt und Jörg
Stüdemann
„Das Ruhrgebiet hat sich ein neues Profil gegeben, weg von
der Montanindustrie und hin zur Kultur. Im Ruhrgebiet wird jetzt
an anderen Stellen geschürft.“ Mit dieser These eröffnete
Theo Geißler, Herausgeber der neuen musikzeitung, ein Gespräch
mit Oliver Scheytt, Beigeordneter für Bildung, Jugend und Kultur
der Stadt Essen, und Jörg Stüdemann, Stadtrat und Beigeordneter
für Kultur, Sport, Freizeit der Stadt Dortmund. Das Thema:
die aktuelle kulturpolitische Situation in Stadt und Region.
nmz: Jürgen Rüttgers als neuer Regierungschef
hat den Kultur-Etat im Land verdoppelt. Das kommt den kulturellen
Zielen der Ruhrgebietsregion wohl sehr zugute?
Oliver
Scheytt. Foto: Stadt Essen
Oliver Scheytt: Staatssekretär Hans-Heinrich
Grosse-Brockhoff hat angekündigt, dass nächstes Jahr mehr
Geld da sein wird. Aber es ist nicht so, dass es von heute auf morgen
verdoppelt wird, sondern über fünf Jahre. Wenn man das
aufteilt, werden es wohl jedes Jahr 20 Prozent mehr sein.
nmz: Was bringt das aus Ihrer Sicht, Herr Stüdemann?
JörgStüdemann: Wir
wissen allerdings auch, dass damit nicht das Wiedereinsetzen aller
Positionen gemeint sein wird, sondern vermutlich Schwerpunktbildungen
im Kulturbereich finanziert werden sollen. Und über diese ist
dann politisch noch zu debattieren zwischen Kommunen, Gebietskörperschaften
und Landesregierungen.
Scheytt: Besonders erfreulich ist festzustellen,
dass die Landesregierung bei der kulturellen Bildung einen Schwerpunkt
setzen will, und damit auch bei der Frage, wie Künstler an
Schulen eingesetzt werden können. Da hat Dortmund zusammen
mit Essen eine Vorreiterstellung eingenommen: Ein Beispiel ist die
Chorakademie, die jetzt auch in verschiedenen Städten des Ruhrgebiets
tätig ist, um das Singen zu einem großen Thema zu machen.
Wir möchten gerne, dass sich da das Land noch mehr engagiert,
da wir das nicht alleine aus städtischen Mitteln bewältigen
können.
nmz: Auf der anderen Seite hat Grosse-Brockhoff
in einem Artikel für die Zeitschrift politik und kultur die
Sehnsucht geäußert, pauschal gesagt möglichst viele
Kulturbereiche zu privatisieren. Wie stehen Sie als Kulturdezernenten
zu solchen Sehnsüchten?
Jörg
Stüdemann. Foto: Stadt Dortmund
Stüdemann: Ein städtisches Kulturleben
und Kunstgeschehen ohne private, privatwirtschaftliche und gemeinnützig
freie Initiativen, Vereinigungen und Verbände ist für
Deutschland nicht vorstellbar. Sollte sich hinter dieser Ankündigung
allerdings verbergen, dass die großen öffentlichen und
kommunal getragenen Kulturinstitute wie Theater, Opernhäuser
und große Museen nun privatisiert werden sollten, dann hege
ich große Zweifel, ob dieser Wunsch realistisch ist. Die Finanzvolumina,
die dafür notwendig sind, lassen sich bisher bekanntermaßen
auf dem freien Markt der Sponsoren, Förderer und Unterstützer
kaum einholen. Dankenswerterweise dürfen wir schon jetzt ein
privates Engagement von vier bis fünf Prozent in Relation zum
öffentlich aufgebrachten Geld vermelden. Aber selbst Großbritannien,
das mal in den 80er-Jahren unter Maggie Thatcher eine ganz große
Privatisierungskampagne losgetreten hatte, mit der Hoffnung, dass
überall Sponsoren einspringen, ist über Bestwerte von
sieben bis acht Prozent nicht hinausgekommen.
nmz: Es findet nicht nur die Verlagerung der
Finanzen statt, es ist auch eine Verlagerung der Verantwortung.
Scheytt: In der Tat sollte man drei verschiedene
Optionen der Privatisierung beachten. Das eine ist die Nutzung privater
Rechtsformen für öffentliche Einrichtungen. Im Einzelfall
ist es sicher sinnvoll, über GmbHs, Stiftungen oder Ähnliches
mehr nachzudenken. Das Zweite ist dann die komplette Privatisierung,
Herr Stüdemann hat da schon das Entsprechende gesagt: Alle
wissen, dass Musikschulen oder große Orchester nicht allein
durch Einnahmen von privater Seite finanziert werden können.
Und das Dritte ist, dass wir natürlich Förderpotenziale
ausnützen sollten im Bereich der Unternehmerschaft und privat
vermögenden Menschen. Bei alldem ist entscheidend, dass wir
eine soziale Verpflichtung haben: Unsere Musikangebote müssen
für Nutzer und Besucher bezahlbar bleiben.
Musik und Politik
nmz: Herr Stüdemann, lassen Sie uns in die
Musiksphären zurückkommen. Die Dortmunder Philharmonie
wurde ein gutes Jahr früher fertig als die benachbarte schwesterliche
Essener Philharmonie. Sie hat aber auch relativ schnell schon den
ersten Intendanten verschlissen. Ist das ein „Kollateralschaden“,
wenn man so ein großes Projekt angeht?
Stüdemann: Wir haben uns etwas sehr Ambitioniertes
vorgenommen, dass in der räumlichen Nähe, fünf Minuten
fußläufig entfernt von der Oper, vom Theater Dortmund
im Brückstraßenviertel ein ganzes Quartier quasi auf
das Thema Musik abonniert wird und dort möglichst ein Institut
nach dem anderen zur Errichtung kommt. Das Flaggschiff ist ohne
Zweifel mit einer gewaltigen kommunalen Anstrengung von seinerzeit
83 Millionen D-Mark Baukosten und 12 Millionen Abrisskosten das
Konzerthaus Dortmund, das wunderbar seine Arbeit aufgenommen hat,
und auch in der allgemeinen Wahrnehmung und der Wertschätzung
hoch angesiedelt ist. Weiter eröffnen wir am 19. Oktober nach
zweijähriger Bau- und Umgestaltungszeit den neuen Jazzclub
domicil mit mehreren Aufführungsfacilitäten, einem Raum
für 500 Besucherinnen und Besucher und dann sozusagen runterdekliniert
bis zur Café-Lounge mit 50 Plätzen. Außerdem sind
wir dabei, mit dem Land Nordrhein-Westfalen das Orchesterzentrum
Nordrhein-Westfalen für die Expertenausbildung in unmittelbarer
räumlicher Nähe – vis-a-vis – vom Konzerthaus
entstehen zu lassen. Das wird im Frühjahr 2007 eröffnet
und beherbergt dann einen längst überfälligen und
notwendigen Kammermusiksaal. Wir haben jetzt ein gutes Quartier
für die Chorakademie als Interimsherberge gefunden und wollen
sehen, dass wir die Chorakademie mit ihrem gesamten Raumbedarf (ungefähr
1.600 bis 1.800 Quadratmeter Fläche) auch in das Brückstraßenviertel
einziehen lassen. Parallel dazu gibt es ein großes Projekt,
das Musikwirtschaftliches Zentrum heißt. Natürlich kann
es auch einmal zu Konflikten und Auseinandersetzungen über
Richtungsverläufe, Programmprofile und Konzeption oder finanzwirtschaftliche
Möglichkeiten der Stadt geben. In so einer Akkumulation von
Schwierigkeiten und Konflikten ist leider die Auseinandersetzung
mit dem, ich sage mal „Vater des Konzerthauses“, Herrn
Vogt, eskaliert. Was sehr betrüblich ist, aber was sich unglücklicherweise
auch nicht mehr hat abwenden lassen.
nmz: Sie haben mit Benedikt Stampa sicher einen
kompetenten Nachfolger für Andreas Vogt gefunden, aber geben
wir erstmal Herrn Scheytt die Gelegenheit seine prächtige Essener
Konzertszenerie zu beschreiben.
Scheytt: Wir können auf eine erste sehr
erfolgreiche Saison zurückschauen. Wir haben weit über
200.000 zahlende Besucher zu verzeichnen und müssen sagen,
dass sich der Konzertsaal sofort in das Herz der Menschen gespielt
hat. Jetzt geht es darum, die Ausstrahlung in die benachbarten Städte
und Regionen zu verstärken. Dabei sehen wir uns mit Dortmund
in einem kongenialen, komplementären Zusammenspiel, weil wir
mehr in Richtung Niederrhein, nördliches Ruhrgebiet, aber auch
nach Velbert, Ratingen ausstrahlen. Inzwischen sagen mir Leute im
Konzertsaal: „Wir brauchen ja gar nicht mehr wegfahren, in
Essen ist es so schön, wir bleiben hier und machen keine verlängerten
Wochenenden mehr woanders.“
nmz: Ist das eine Aufgabenverteilung, die auch
den Dortmunder Kulturdezernenten freut?
Stüdemann: Ja, unbedingt. Wir freuen uns
gemeinsam mit den anderen Kollegen der Kulturkritik oder der öffentlichen
Politik über den Richtungswechsel und die Kultur- und Kunstbegeisterung,
die das gesamte Ruhrgebiet schrittweise erfasst. Diese „Nachholbewegung“
ist nicht verwunderlich und hängt damit zusammen, dass sich
die Arbeitsbedingungen und -zusammenhänge ändern, dass
wir Dienstleistungsstädte geworden sind, dass wir durchweg
höhere Bildungsabschlüsse haben und sich dadurch das Freizeitverhalten
ändert und dass in vielen, vielen Städten die Bevölkerung
altert und ältere Menschen in ganz großem Anteil Kulturkonsumenten
sind. In dieser atmosphärischen Wechselstimmung schadet es
überhaupt nicht, wenn zur Essener Philharmonie nun am östlichen
Rand auch ein Konzerthaus hinzugetreten ist. Das hat übrigens
ähnliche Besucherrekorde zu verzeichnen: Wir sind etwa bei
230.000. Das Publikum rekrutiert sich dabei zu ungefähr 55
Prozent aus den Nachbarstädten in einem Halbkreis um Dortmund
herum nach Osten. Unser Hauptterrain, Menschen für die Musik
zu mobilisieren, liegt östlich, südlich und nördlich
von Dortmund mit einem Einzugsbereich von insgesamt ungefähr
zwei Millionen, und das funktioniert ganz gut.
Scheytt: Wir können inzwischen selbstbewusster
als Kulturmetropole Ruhr auftreten, weil sich die Dinge zusammenfügen.
Durch RuhrTriennale, Klavierfestival, Ruhrfestspiele, Chorwerk Ruhr,
Jazzwerk Ruhr, Folkwang Hochschule und nun das große Projekt
Kulturhauptstadt treten wir immer mehr als eine gesamte Kulturregion
auf und wirken zusammen. Das ist das Ergebnis einer intensivierten
zehnjährigen Zusammenarbeit.
nmz: Benedikt Stampa hat als neuer Intendant
des Dortmunder Konzerthauses die etwas globale Parole ausgegeben,
er wolle ein neues Publikum erschließen. Was heißt das
konkret? Stüdemann: Wir haben mit dem Konzerthaus ein
paar Dinge praktiziert – die übrigens von Michael Kaufmann
in Essen nicht anders betrieben werden – wie conductor in
residence, composer in residence, orchestre in residence. Aber es
zeigt sich, dass bestimmte Programme angesichts der Größe
des Hauses vom Publikum nicht in der Form goutiert werden. Wir setzen
perspektivisch darauf, dass wir so eher im Kammermusiksaal einige
Profile umsetzen als im großen Haus mit 1.560 Plätzen.
Vor diesem Hintergrund deutet Stampa an, dass er sich vorstellen
kann, gewisse Profilverschiebungen für das große Haus
vorzunehmen, die mitunter einen etwas populäreren Zugang zur
klassischen, zur E-Musik und zur akustischen Musik gestatten, und
dazu animieren, das Haus zu besuchen, damit es nicht zu stark auf
die Konvention des Klassik- und E-Musik-Konsumenten ausgerichtet
ist. Als Zweites deutet sich an, wir werden die in der Qualität
sehr hoch stehenden Angebote, die Herr Vogt ins Programm genommen
hat, dem Publikum in einer anderen zeitlichen Streckung anbieten
müssen. In die Region hinein werden wir noch einmal eine große
Werbeinitiative für das Konzerthaus starten.
nmz: Es liegt auf der Hand, dass Neue-Musik-Veranstaltungen
wie der Schönberg-Zyklus schon als hoher Erfolg bewertet werden
müssen, wenn sie 600 bis 700 Leute anlocken. Wie stark werden
und müssen vielleicht auch die Angebote von Zweit- oder Drittveranstaltern
in Ihrem Haus vertreten sein, um es gegenüber einer Stadtverwaltung
und einem Kultusministerium als materiell erfolgreich darstellen
zu können?
Scheytt: Wir haben schon ganz erfolgreich mit
Drittveranstaltern zusammengearbeitet, die mit der ersten Saison
so zufrieden waren, dass sie in dieser zweiten Saison mehr Veranstaltungen
gebucht haben. Wir müssen zum einen Erfahrungen sammeln. Zum
Zweiten müssen wir das Publikum bilden. Das Dritte ist, dass
wir auf jeden Fall in Essen unserer Intendanz, unserer Philharmonie
einige Jahre kulturpolitische Rückendeckung geben wollen, um
sich zu entwickeln.
Stüdemann: Drittveranstalter waren bei uns
ohnehin von Anfang an stark im Programm und werden auch weiterhin
dabei sein. Zuletzt wünscht sich die Stadt selbstverständlich,
dass zumindest in groben Zügen die Budget-Vorgaben eingehalten
werden. Wir sind eine Stadt mit einer sehr hohen Arbeitslosigkeit,
die bei etwa 18, 19 Prozent liegt. Wir ächzen unter den Soziallasten.
Der größte Teil unseres Haushaltes en bloc geht in die
sozialen Transfer-Leistungen, auch nach Hartz IV. In dieser Gesamtlage
muss eine Kultureinrichtung, auch wenn das etwas hart klingt, ein
Situations- und Kontextbewusstsein entwickeln und sich dem auch
verpflichtet fühlen.
nmz: Laufen Dortmund und Essen den alten Kulturmetropolen
Berlin und München demnächst endgültig den Rang ab?
Ist das vielleicht schon vollbracht?
Stüdemann: Das ist gar nicht der Anspruch.
Wichtig ist es, die spezifischen Möglichkeiten unserer Region
kulturell, künstlerisch auszuformen, zu profilieren und zu
entwickeln. Wenn das dann eines Tages eine magnetische Wirkung haben
sollte, freuen wir uns riesig.
Scheytt: Mir geht es auch nicht um ein Ranking,
sondern um die Identität, die Aufmerksamkeit nach innen und
außen, was die Kultur anbelangt. Daraus entsteht ein neues
Bewusstsein. Das hat dann zur Folge, dass wir auf der kulturellen
Landkarte Deutschlands und – durch die Kulturhauptstadtbewerbung
– auch Europas als vibrierende Kulturmetropole wahrgenommen
werden.
nmz: Ist Ihnen der Westdeutsche Rundfunk bei
all diesen Anstrengungen ein guter Kulturpartner?
Stüdemann: Als Partner ist er sehr geschätzt,
gerade im Bereich der gemeinsamen musikalischen Veranstaltungen.
Was wir uns wünschten, ist eine leichte Änderung der Blickrichtung
weg vom Rhein ein bisschen stärker zur Ruhr.
Scheytt: Diese Blickrichtung erleben wir auch
bei den gedruckten Medien. Insofern ist die mediale Problematik
auch für uns eine dauernde Herausforderung und wir freuen uns
deshalb sehr, dass die neue musikzeitung dieses Interview mit uns
geführt hat.