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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 6
54. Jahrgang | November
Magazin
Gut behauptet, trotz Spannungs- und Niveauabfall
Die RuhrTriennale setzte sich als flächendeckendes Festival
durch
Das neue Jahrtausend sollte an Rhein und Ruhr hochgemut beginnen.
Im Dezember 2000 wurde Gérard Mortier mit einer Pressekonferenz
im Düsseldorfer Stadttor als Gründungs-Intendant eines
Festivals inthronisiert, das mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen
sollte. Vornan ging es darum, eine respektable Nutzung brachliegender
Immobilien aus den heroischen Zeiten des Industriezeitalters in
die Wege zu leiten, die der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen
als teure Klötze am Bein hingen: Die Jahrhunderthalle in Bochum,
die Kraftzentrale Meiderich in Duisburg, der Gasometer in Oberhausen,
die Zeche Zollverein in Essen und andere auratische Räume des
späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sollten sporadisch,
aber dauerhaft genutzt werden für Musik-, Sprech- und Tanztheater
oder Konzerte; insbesondere auch für Projekte mit neuem Medieneinsatz,
in denen sich verschiedene Kunstformen verflechten oder verschmelzen.
Die Region sollte ein Pilotprojekt des postindustriellen Zeitalters
erhalten und mit diesem ein Zeichen der kreativen Erneuerung setzen.
Ministerpräsident Wolfgang Clement und der zuständige
Minister Michael Vesper sagten für diese Strukturfördermaßnahme
jährlich zwanzig neue Millionen Euro zu, die nicht anderswo
aus dem Kulturetat abgezweigt würden. Trotz vehementer Sparzwänge
wurde, was die finanzielle Ausstattung für die Neukultivierung
des alten Terrains angeht, im Wesentlichen Wort gehalten.
Die RuhrTriennale wurde aus der Taufe gehoben. Im fünften
Jahr nach der hochtönenden Proklamation ist festzuhalten, dass
da nicht nur ein großer Kraftakt stattfand, mit dem kulturelle
Produkte in ein schwieriges, teilweise kontaminiertes Gelände
im-plantiert wurden, sondern dass dieses Festival in erstaunlich
kurzer Zeit zu jenem „Leuchtturm“ heranwuchs, den zu
installieren die Betreiber von Anfang an versprochen hatten. Allen
Unkenrufen der Pessimisten und Neider zum Trotz ging das Konzept
erstaunlich weitgehend auf. Die RuhrTriennale hat sich, ohne ringsum
andere Kulturaktivitäten zu beschädigen oder auszutrocknen,
etabliert.
Dies funktionierte vor allem mit drei Hebeln, die Mortier gekonnt
hantierend in Bewegung setzte: Zum einen betraute er (international
renommierte) Künstler, mit denen er teilweise bereits bei den
Salzburger Festspielen neue Präsentationsformen erprobt hatte,
mit Inszenierungen oder (interdisziplinär konzipierten) „Kreationen“.
Die sorgten – zumal, wenn sie als Uraufführungen zu verkaufen
waren – für originären Zuwachs im Nordwesten der
Bundesrepublik und für überregionales Aufsehen (auch haben
sie seit vergangenem Herbst zu einem nicht geringen Teil den Neuanfang
von Mortier als Erneuerer der Pariser Nationaloper mitbestimmt).
Der Impresario im Ruhr-Revier sorgte überhaupt für teilweise
exquisite Gastspiele, andererseits verband er sein Unternehmen,
geschickt selektierend, mit den dynamischeren künstlerischen
Kräften aus der näheren oder weiteren Umgebung seiner
Einsatzleitzentrale in Gelsenkirchen – mit Teilen der Tanzlandschaft
(und der in Wuppertal ansässigen Pina Bausch vornan), mit dem
„ChorRuhrWerk“ oder dem Bochumer Theater. Mortier scheute
sich nicht einmal, den Lokalpatriotismus der Leute im Revier mit
gebührender Sentimentalität bedenken zu lassen.
Selbst notorische Optimisten waren gelinde erstaunt, wie rasch
und nachhaltig die musiktheatrale Begrünung des Brachlandes
gelang: dass und wie das Projekt die verhießene Strahlkraft
entwickelte und wie sie von unterschiedlichen Publikumskreisen akzeptiert
wurde. Denn parallel zu Gérard Mortier scheiterte Frank Castorf
mit einem vergleichsweise modernistisch-urbanen Aufmöbelungskonzept
bei den (vom Deutschen Gewerkschaftsbund getragenen) Ruhrfestspielen
(die etwas weiter östlich und schwerpunktmäßig in
Recklinghausen angesiedelt sind).
Auch Mortiers Nachfolger auf dem Chefsessel der RuhrTriennale,
Jürgen Flimm, setzte – wenngleich unter deutlichen Abstrichen
am ambitionierten Konzept und bei der Qualitätskontrolle –
den Erfolgskurs fort. Mit 70.000 Besuchern bei 120 Vorstellungen
wurde 2005, wie Flimm bekannt gab, eine Platzausnutzung von mehr
als 80 Prozent erzielt und mithin das Planungssoll erfüllt
(wobei ein routinierter Theaterdirektor mit Erfolgszahlen ebenso
zu jonglieren versteht wie mit der variablen Bestuhlung in einer
großen Halle). Freilich mehren sich die Bedenken gegen die
von Flimm betriebene, sozialdemokratisch inspirierte Tendenz zur
Popularisierung des Programms und der damit einhergehenden Absenkung
des ästhetischen Niveaus. Den neben der RuhrTriennale in der
Region um zahlungskräftige Kundschaft bemühten Kulturanbietern
dürfte deren Existenz und Konsolidierung keineswegs zum Nachteil
gereichen. Im Gegenteil: Essens Kulturlandschaft erhielt nicht nur
Zufuhr und frischen Glanz durch die von Michael Kaufmann nach vorn
gepuschte neue Philharmonie, deren Angebot das des von Stefan Soltesz
dirigierten Aalto-Theaters ergänzt, sondern auch durch die
Offerten auf der Zeche Zollverein, die sich kaum mit denen der anderen
Anbieter überschneiden. Für das Bestehen in der Konkurrenz
um die Bewerbung als „Kulturhauptstadt 2010“ waren die
Gründung und das Aufblühen der RuhrTriennale essentiell.
Das von Franz Xavier Ohnesorg in bewährten Konventionen ausgerichtete
Klavierfestival Ruhr wurde vom „Initiativkreis Ruhrgebiet“,
einem dezidiert konservativen Industriellen-Zusammenschluss, unter
die Fittiche genommen und konnte sich flächen- und kapazitätsmäßig
weit über den ursprünglichen „Bochumer Klaviersommer“
hinaus erweitern. Die ebenfalls im neuen Jahrhundert aus dem Boden
gestampfte Dortmunder Philharmonie für Westfalen kann die ihr
fehlenden Zuhörerscharen und das programmatische Qualitätsdefizit
kaum der Ruhr-Triennale anlasten – sie hat im Wesentlichen
einen anderen Einzugsbereich.
Einzig die Stadt Köln, die größte des Landes und
bis in die frühen 70er-Jahre auf dem Gebiet der Neuen Musik
eine Hauptstadt, auch als Opern- und Theaterstandort von Bedeutung,
könnte beklagen, dass die gezielte Landes-Förderung im
Herzen und Westen der Ruhr-Region indirekt nachteilige Folgen zeitigt
und der Innovationsschub, der in Form von Bonn(e) Chance auch den
Süden des Rheinlands erreicht, an ihr vorbeigeht. Freilich
waren die Kölner, wie ihre „Kulturhauptstadt“-Bewerbung
drastisch unter Beweis stellte, weder willens noch fähig, ernsthaft
in den Wettbewerb um eine führende Position im weitgefächerten
Feld der innovativen Musik- und Theater-„Kreationen“
einzutreten. Und sie sind es, wie die Wahl des in Berlin glücklos
schlingernden Opernintendanten Georg Quander zum neuen Kulturdezernenten
signalisierte, auch fürderhin kaum. Denn der Aufbruch zu neuen
Ufern braucht Vordenker. Dass sich Gérard Mortier für
einige Jahre ins Revier locken ließ und dort nicht nur seine
Visionen mit zierlichen Bosheiten gegen zurückgebliebenes Kulturbewusstsein
garnierte, sondern die Ärmel aufkrempelte und seinem Team in
die Hände spuckte, war wohl ein singulärer Glücksfall.