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2005/11 | Seite 24
54. Jahrgang | November
Musikvermittlung
Alle kreativen Kräfte eingesammelt
Landesmusikakademie NRW wird mit Henzes „Pollicino“
zur Opernarena
Die bundesdeutschen Landesmusikakademien sind für ihr besonderes
Ambiente, sehr gute räumliche Bedingungen und eine inspirierende
Atmosphäre, welche ein künstlerisch-kreatives Tun nahezu
automatisch zulässt, bekannt. Leider haben auch sie es zu Zeiten,
in denen die Mittel und Zuschüsse für Fort- und Weiterbildungsangebote
zunehmend rarer werden, nicht leicht. In Anbetracht dieser Situation
erscheint es um so bemerkenswerter, wenn sich die dort „beheimateten“
Fort- und Weiterbildner zusammenschließen und „ihre“
Akademie mit einem Großprojekt der außerschulischen
Musikvermittlung für kurze Zeit in ein Opernhaus für Jung
und Alt verwandeln.
Hans-Werner
Henze in den Achtziger-Jahren. Foto: Felicitas Timpe
Gute Musik für Kinder ist vor allem eins: nicht Kinder-tümelnd.“
Diese Definition – zugegebenermaßen eine von vielen
– stammt von Ernst Leopold Schmid, dem Direktor der Landesmusikakademie
Nordrhein-Westfalen in Heek-Nienborg bei Ahaus. Und er hat auch
gleich das passende Beispiel parat: Hans Werner Henzes „Pollicino“.
Henze selbst nennt das Stück, das in keine Schublade passt,
„Märchen für Musik“. Letztendlich ist es eine
Oper, aber ohne Vorbilder und – bislang – ohne nennenswerte
Nachahmer.
Schmid weiß, wovon er spricht, denn er hat die Arbeiten
daran und seine Uraufführung 1980 im italienischen Montepulciano
vor Ort miterlebt. Im Jahr 2005 produzierte er das Stück mit
großem Aufwand an der Landesmusikakademie Heek und führte
es insgesamt acht Mal in der Region auf. Mit immensem Erfolg.
Die Idee für dieses Projekt kam von der Choralsingschule Gütersloh.
Ihr Leiter Sigmund Bothmann ist seit Jahren in der Chorleiterausbildung
an der Landesmusikakademie tätig. Obwohl er mit seiner Einrichtung,
die die Nachwuchsabteilung des Bachchores Gütersloh ist, über
die personellen Ressourcen verfügt, war auch ihm klar, dass
sich ein solches Projekt nur als Kooperation mit mehreren Institutionen
verwirklichen lassen würde. Der Schritt auf die Landesmusikakademie
zu, die ohnehin die Musikaktivitäten im Westmünsterland
bündeln kann, war zwangsläufig. Und in Akademieleiter
Schmid fand er einen ohnehin begeisterten Kooperationspartner.
Die Geschichte haben Henze und sein Librettist Giuseppe di Leva
aus mehreren europäischen Märchen zusammengestellt. Pollicino,
der älteste und cleverste von sieben Brüdern, bewahrt
seine Geschwister vor dem Hungertod, weil die Eltern kein Geld haben,
und vor dem Bratpfannentod durch den Menschenfresser Fürchterlich.
Allein auf dem Papier sind die Anforderungen immens. Henze hatte
für die Besetzung die Kräfte der Musikschule in Montepulciano
als Maßstab, heute sorgen unter anderem die vorgeschriebenen
zwölf Blockflöten zunächst für Schweiß
auf der Stirn der Organisatoren. Auch die Kinderhauptrollen sind
nichts für sängerische Anfänger. In Zeiten der fehlenden
Musikalisierung von Kindern ein nicht leicht zu überwindendes
Hindernis. Obwohl Henzes Ursprungskonzept die Erarbeitung des Werkes
vereinfachen wollte, denn Henze benutzte die Kräfte, die ihm
in Montepulciano zur Verfügung standen. Er kombiniert in seinem
Ensemble und Orchester professionelle Kräfte und Amateure.
Die wichtigsten Posten im Orchester – erste Geige, Klavier,
Gitarre – müssen von Profis besetzt werden, der Rest
ist von fortgeschrittenen Musikschülern zu bewältigen.
Also sammelte Schmid die kreativen Kräfte. Die Blockflöten-
und die Schlagwerkgruppe kamen von der Westfälischen Schule
für Musik in Münster, die Streichpsalterien von der Musikschule
für den Kreis Gütersloh. Die Streicher waren freie Musiker
aus dem gesamten Kreis, und die musikalische Leitung oblag Joachim
Harder, Professor für Orchesterleitung an der Musikhochschule
Detmold und Leiter des Studentenorchesters Münster. Der hatte
unter seinen ehemaligen Studenten in Detmold auch den Pianisten
und den Organisten gefunden.
Auch auf der Bühne gilt die Profi-Laien-Kombination: Die
Rollen der Eltern und des Menschenfresser-Paares sind für Opernsängern
geschrieben, Pollicino und seine spätere Freundin Clotilde
müssen gut ausgebildete Kinder sein. Die Geschwister und alle
anderen Gesangsrollen – insgesamt um die 25 – sind von
ausgebildeten Laien zu bewältigen.
Die Produktion der Landesmusikakademie steigerte den Aufwand sogar
noch. Alle Rollen, auch die der Erwachsenen, wurden doppelt besetzt.
Das reduziert die Belastung der einzelnen Darsteller, vervielfacht
aber die Probenarbeit. Insgesamt ein Jahr liefen die Gesangsproben,
drei Monate nahmen sich die Organisatoren im Vorfeld Zeit, die richtigen
Darsteller auszusuchen. Dabei stellten die musikalischen Probenleiter
Sigmund Bothmann, Bettina Pieck und Ernst Leopold Schmid Erstaunliches
fest: Der Name Hans Werner Henze verunsicherte die Kinder überhaupt
nicht. Die geistigen Schranken, hinter die zeitgenössische
Musik immer gesteckt wird, existieren nur in den Köpfen Erwachsener.
Aber das deckt sich mit der Erfahrung aus einer anderen Richtung,
die die Probenleiter gemacht haben. Bothmann: „Man muss Kindern
etwas bieten, man muss sie fördern und fordern.“ Musikalisch
gibt es fast nichts, was Kinder nicht zu leisten im Stande sind.
Jungs im Alter zwischen elf und dreizehn tun sich zwar schwerer
als gleichaltrige Mädchen – Singen gilt nicht als „cool“
–, das Ergebnis beeindruckt die Mitschüler aber doch.
Und nicht nur die. Ein weiteres Phänomen deckte Regisseur Michael
Hoffmann auf: Erst im Verlauf des Probenjahres lernten die Kinder,
gleichzeitig zu singen und zu spielen. Diese doppelte geistige Leistung
ist offensichtlich nicht selbstverständlich.
Man kann es fast schon Feldzug nennen, was Schmid mit dieser Produktion
erreichen möchte. Er moniert – zu Recht – den permanenten
Ausfall von Musikunterricht an Grund- und weiterführenden Schulen,
die in musikalischen Dingen immer weniger ausgebildeten Erzieherinnen
in Kindergärten und die daraus resultierende allmählich
abnehmende Fähigkeit der Kinder zu singen. So lobenswert das
„Pollicino“-Projekt jedoch auch war, Nachahmer dürften
sich nur wenige finden. Zu hoch sind die Ansprüche an die Ausführenden
und die Vorgaben des Komponisten. Kaum eine Schule kann in ihrem
dünn besetzten Orchester – wenn überhaupt vorhanden
– die von Henze geforderten zwölf Blockflöten, vier
Schlagzeuger und vier extrem seltene Streichpsalterien vorweisen,
geschweige denn die Fachkräfte für die stimmliche Vorbereitung
der Sänger aufbringen. Das geht nur über Kooperationen.
Da nutzt man lieber das, was man hat, mit den Fähigkeiten,
die man vorfindet, und schneidert sich die Bühnenmusik auf
den eigenen Leib. Das Ergebnis mag dann eine Art Schulmusical sein,
das möglicherweise dem Vergleich mit anderen Bühnenwerken
für Kinder nicht standhält. Aber man bringt immerhin eine
größere Gruppe Kinder mit Musik und Bühne in Kontakt.
Das spart nicht zuletzt auch die für allgemein bildende und
vermehrt auch Musikschulen nahezu unbezahlbaren Kosten für
die Aufführungsrechte.
Ein derartig singuläres Projekt wie der „Pollicino“
kann aus sich selbst heraus diese Missstände auch nicht beheben,
weiß Schmid durchaus. Aber für ihn ist der „Pollicino“
beispielgebend für das, was Kinderoper in dieser Zeit sein
kann und sein soll. Er möchte dieses Projekt demzufolge auch
als Ermutigung und Aufforderung für Komponisten verstanden
wissen, für das Genre Kinderoper zu komponieren. Der Aufwand
lohnt sich, möchte Schmid beweisen. Auch, weil optimale Musikvermittlung
im Idealfall nur über das Zusammentreffen von Laien und Profis,
von Kindern und Erwachsenen funktioniert. Einen Nachahmer hat er
trotz aller Schwierigkeiten schon gefunden: Die Musikschule in Neuss
fühlt sich inspiriert, das Stück selbst auf die Bühne
zu bringen.