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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 42
54. Jahrgang | November
Bücher
Einsichten in die Arbeit einer Musikpsychologin
Ist die Fähigkeit, vom Blatt spielen zu können, erlernbar?
Ji In Lee: Component Skills Involved in Sight Reading Music.
(Schriften zur Musikpsychologie und Musikästhetik, Band 15),
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 176 S., € 39,00, ISBN
3-631-52682-2
Die erste Begegnung mit unbekannten Noten: Viele Musikerinnen und
Musiker blättern mit großer Neugier durch eine Partitur
und packen Sekunden später guter Dinge zu. Andere wiederum
schnüffeln den Duft von potentiellem Misserfolg und scheuen
zurück. Wenn man dann im Stil der gut meinenden Klavierpädagogen
zum Ausprobieren ermuntert, geht die Prophezeiung der Zögerlichen
in Erfüllung. Es führt zu einer Ansammlung von Tönen,
die nicht die Gestalt einer Komposition annehmen wollen. Quittiert
wird das Missgeschick mit Stöhnen. Mit solcher Erfahrung drängt
sich die Frage auf, ob die Fähigkeit, vom Blatt spielen zu
können – die für den Erfolg in vielen Musikerberufen
unerlässlich ist –, angeboren oder erlernbar ist.
Das Blatt- oder „Prima-vista-Spiel“ wird auf Englisch
„sight reading“ genannt. Dennoch ist es bisher nicht
erwiesen, dass das Sehen („sight“) ausschlaggebend für
diese Fähigkeit ist. Lehrwerke zu diesem Thema divergieren
stark. Einige wollen dem Spieler rhythmische und motivische Muster
einprägen, andere zielen darauf ab, Augen, Ohren und Finger
mit progressivem Schwierigkeitsgrad in Bausteinen zu trainieren.
Ji In Lee sagt, dass es bisher überhaupt keine erfolgreiche
Lehrmethode des Blattspielens geben konnte, da eine plausible Erklärungstheorie
für diese Fähigkeit fehlte. Mit ihrer Arbeit ermöglicht
sie eine wissenschaftliche Betrachtung der kognitiven, physiologischen,
spieltechnischen und musikalischen Voraussetzungen für das
kompetente Blattspiel. Ziel ihrer Studie ist, festzustellen, ob
die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Musikers beim Vomblattspielen
auf Grund von quantifizierbaren Fähigkeiten und Prädispositionen
vorausberechnet werden kann. Mit großer Sorgfalt hat sie ihr
Experiment vorbereitet und eine Untersuchung mit 52 Studenten durchgeführt.
Dadurch konnte sie am Ende statistisch relevante und wissenschaftlich
verwertbare Erkenntnisse gewinnen.
Wer aus der Unterrichtspraxis kommt, erhält durch dieses
Buch Einsicht in die Arbeitsmethoden einer Musikpsychologin. Nicht
der subjektive Eindruck einer Lehrkraft, sondern Computer-Software
wertete das Vorspielen der Probanden aus. Mittels Kopfhörer
vernahmen diese eine Melodie, die sie begleiteten. Alle Spieler
mussten zwei „Aufwärmstücke“ und dann fünf
weitere Stücke unterschiedlichen Niveaus probieren. Ihre Trefferquote
wurde ermittelt. Getestet wurden auch visuelle und auditive Reaktionszeit,
Fingerfertigkeit (bei Trillern und „Speed Tapping“)
und Speicherkapazität des Kurzzeit- und des Arbeitsgedächtnisses.
(Ein kurzes Video auf der Webseite http://musicweb. hmt-hannover.de/sightreading
illustriert die angewandte Methode.) Allgemeine, nicht musikspezifische
Intelligenz wurde bestimmt, und – äußerst spannend
– die Fähigkeit der „Audiation“ nach Gordon
(„Inner Hearing“) überprüft. Frau Lee hat
sowohl die musikalische Expertise der Versuchsperson dokumentiert
– Anzahl der Stunden als Solist, Begleiter und Kammermusikpartner
– als auch die wöchentliche Übungszeit, die für
das Vomblattspiel aufgewendet wurde, sowie Alter, Geschlecht, absolutes
Gehör und Links- oder Rechtshändigkeit.
Was Pädagogen in der Praxis erleben und daher als Ergebnis
auch vermuten, bewahrheitet sich. Frau Lees Untersuchung zeigt:
Wer bis zum 15ten Lebensjahr das Vomblattspiel erlernt und dezidiert
geübt hat, schnitt bei der Performanzaufgabe bestens ab. Unter
den insgesamt 25 Variablen gibt es zwei aus dem Bereich der Motorik,
die sich als besonders aufschlussreich erweisen. Wer mit den Fingern
3-4-2 oder 3-4-1 schnell trillern kann, scheint ebenfalls über
beste Voraussetzungen für eine gute Spielleistung zu verfügen.
Soviel sei hier schon einmal vorweggenommen.
Auf Sie wartet also eine grundlegende Darstellung des experimentellen
Paradigmas, samt Information zum Ablauf, zur Datensammlung und deren
Auswertung, sprich, viel Statistik. Trotzdem können Sie daraus
eine aufregende Lektüre machen, indem Sie sich auf die Suche
nach „verdächtigen“ Komponenten begeben, die Ihnen
helfen können, das Geheimnis des Vomblattspiels zu entschlüsseln.
Das heißt, wer vor hat, sich mit diesem Buch auseinander zu
setzen, muss eine aktive, mitdenkende Rolle einnehmen. Die Herausforderung,
Detektivarbeit zu leisten, hat mir gut gefallen. Die Autorin verheimlicht
nicht, dass ihre Studie nur der Information und Spurensicherung
dienen kann. Eine vollkommene Aufhellung des Phänomens ist
– wenn überhaupt – erst nach vielen weiteren Untersuchungen
zu erhoffen.