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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 41
54. Jahrgang | November
Bücher
Grundlegendes und Insider-Tipps
Eine neue Instrumentationslehre als Nachschlage- und Lehrwerk
Ertugrul Sevsay: Handbuch der Instrumentationspraxis,
Bärenreiter, Kassel 2005, 668 S., Notenbsp., € 68,00,
ISBN 3-7618-1726-6
Wie erlernt ein Komponist eigentlich sein kompositorisches Handwerk?
– Indem er „macht“. Die tätige Auseinandersetzung
steht schließlich auch im Mittelpunkt des „Handbuchs
der Instrumentationslehre“, das Ertugrul Sevsay jüngst
vorgelegt hat: Als ein Buch, das aus der Praxis kommt und für
die Praxis gemacht ist, bietet es Einblick in die Grundlagen der
klassischen Instrumentationslehre, versteht sich durch seinen übungspraktischen
Teil jedoch auch als Lehrbuch, das in eigens angefertigten Übungen
zur unmittelbaren Anwendung des Erworbenen einlädt. Auf 668
Seiten bietet das stattliche Werk eine systematisch aufbereitete,
gut lesbare Darstellung über die Grundlagen der Instrumente
und ihre Verwendung im Orchester, das gegenüber seinen prominenten
Vorgängern, etwa der Instrumentationslehre von Casella-Mortari,
nun (endlich!) auch um die wesentlichen Errungenschaften des 20.
Jahrhunderts erweitert ist. Lange haben die Kompositionsklassen
auf eine „Modernisierung“ des alten Casella-Klassikers
gewartet, wenn ein solches Handbuch auch (naturgemäß)
die sehr spezifischen Bedürfnisse der Neuen Musik nicht ganz
so umfassend repräsentieren kann, wie dies in den einschlägigen
Einzeldarstellungen der Fall ist (vgl. „Die Spieltechnik der
Flöte“ von Carin Levine/Christina Mitropoulos-Bott).
Die Erläuterungen, die der Autor zur Handhabung der Instrumente
wie auch zu ihren Spielweisen gibt, sind dabei so anschaulich und
übersichtlich dargestellt, dass sich die Abläufe auch
für Nicht-Freaks schnell nachvollziehen lassen. In welcher
Lage kann der 3. und 4. Finger beim Kontrabass selbstständig
geführt werden? Kein Problem: Ab der siebten ist’s möglich,
wohingegen in den Lagen davor stets beide Finger zusammen spielen.
Hätten Sie’s gewusst?
Sie überlegen, ob ein bestimmter Doppelgriff auf der Bratsche
spielbar ist. Mit dem Projektionsverfahren von Alexander Palamidis
(im Buch ausführlich erklärt) sind Sie auch hier immer
auf der sicheren „Saite“. Andere Techniken, etwa die
Darstellung der Stricharten von „Staccato volante“ bis
„Ricochet“, werden überdies an einem kurzen Beispiel
aus dem Repertoire erläutert. Wichtige Tabellen, etwa zur Erzeugung
der Flageolett-Töne, sind dabei ebenso hilfreich wie die bildliche
Veranschaulichung des Übergangs der Stricharten von „Alla
corda“ bis hin zum gewöhnlichen „Staccato“.
Überhaupt bleibt zu bemerken, dass Sevsays Ausführungen
zu den Streichinstrumenten (und zur Harfe) zu den lohnendsten Kapiteln
dieses Buches zählen, in das nun erstmals auch klassische „Insider-Tipps“
aufgenommen sind.
Auch die Kapitel zu den Holz- und Blechbläsern sind anschaulich
gestaltet und lassen eine umfassende Erfahrung in diesem Metier
erkennen. Wo genau steht ein Saxophon, wenn es als ganz normales
Orchesterinstrument in der Partitur vorkommt? Zwischen Schlagzeug
und Streichern? Nicht wirklich optimal. Besser: zwischen Klarinetten
und Fagotten (sofern es nicht als Soloinstrument gedacht ist), also
mitten im Holzbläsersatz. Scheint logisch, wenn man bedenkt,
dass ein so spezielles Timbre in der Tat wohl am besten zwischen
Klarinetten und Fagotten zur Verschmelzung kommt. Dass für
das Horn ein historischer Exkurs eingefügt ist, ist ebenfalls
plausibel, wenn man sich die Fülle von Ausnahmeregelungen anschaut,
die für dieses Instrument bis heute in der Orchesterpraxis
bestehen. Auch die Ausführungen zu Dynamik, Dämpfer, Mundstück-
und Schallröhreneffekten der Bläser wie auch über
die genauen Möglichkeiten von Glissandi auf der Posaune sind
lohnend und aufschlussreich. Dass die für die Neue Musik so
ergiebigen Multiphonics auf der Flöte und (Bass-)Klarinette
derweil ein bisschen arg kurz kommen, ist dabei sicher zu bedauern,
zumal hier kaum ein Nicht-Bläser (bei den schier unbegrenzten
Möglichkeiten!) wirklich Detailkenntnisse mitbringt. Auch der
etwas unorthodoxere Einsatz der Pedaltöne für Posaune
und Tuba (Unterdrucktechniken) wäre in der Darstellung noch
wünschenswert gewesen, wie überhaupt die Entdeckung der
Tuba, wie sie sich in den vergangenen Jahren in der noise- und elektronischen
Szene ereignet hat, noch nicht wirklich Eingang in das ansonsten
sehr zuverlässige Kompendium gefunden hat.
Neu im Bereich der klassischen Instrumentationslehre ist der mehr
als die Hälfte des Bandes einnehmende praktische Teil, in dem
50 eigens angefertigte Arbeitsparticelli zur praktischen Übung
einladen. Den zu Studienzwecken verkürzten Particelli stehen
hier immer die „Auflösungen“ der jeweiligen Instrumentationsübungen
im Original gegenüber, die von einer beschreibenden Analyse
der grundlegenden Vorgehensweisen begleitet werden. Dass dieses
Buch sich somit nicht nur als ein profundes Nachschlagewerk, sondern
auch als ein umfangreiches didaktisches Lehrwerk erweist, lässt
Sevsays langjährige Auseinandersetzung mit diesem Metier erkennen.
Auch wenn das grundsätzliche Verständnis des Faches Instrumentation
von vielen Hochschulen vielleicht nicht in dieser Form geteilt wird:
ein persönlicher Gewinn ist dieses Kompendium, das für
Komponisten, Arrangeure, Tonmeister oder Dirigenten gleichermaßen
lohnend ist, schon vorab.