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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 38
54. Jahrgang | November
Rezensionen
Auf dem Weg zum rettenden Christbaum
Neue Pop-CDs im Prolog der winterlichen Phonowelt
Die vermeldenswerten Nachrichten der Popwelt werden karger. Die
Preisverleihung COMET kennt keiner über dem zwölften Lebensalter,
Bruce Springsteen handelt bei Sony/BMG einen 114-Millionen-Dollar-Vertrag
aus (offensichtlich auf Lebensdauer) und Deutschland lässt
sich von Robbie Williams verulken, der nicht ein Instrument unfallfrei
spielen kann, in den USA kein Bein auf den Boden bekommt, dafür
aber Millionen und kreischende Fans kassiert. Langweilig.
Visionär sollte man den nahenden phonetischen Audiorausch
bei zwei essentiellen Weihnachts-CDs belassen. Es bietet sich an
die Kompilation „Snow 3 – The Get Easy! Christmas Collection
III“ zu erwerben, die ersten beiden waren ein Erfolg und selbst
2005 freut man sich über 24 Adventsklassiker (Raritäten
aus den 60/70ern) von Bing Crosby, Ella Fitzgerald, Dean Martin,
The Temptations oder Beach Boys und anderen. Dazu passt die Veröffentlichung
„11 Top Musical Stars – Christmas Stories“; nichts
weiter als elf Musical Stars (von Evita, Mamma Mia, Elisabeth, We
Will Rock you oder 42nd Street), die ihre persönlichen Weihnachts-
Schlager auf einer CD verewigten.
Unbeeindruckt vom kommenden Fest wirkt Richie Hawtin mit „DE9/Transitions“
weiter, dem dritten Werk seiner DE9 Mix Compilation Reihe. Soundcollagen
zwischen urbaner Rockmusik und snobistischer Technowelt sind sein
Anliegen. Elektronisch und betörend formuliert, oft engstirnig
aber insgesamt sehr spannend. „DE9/ Transitions“ erscheint
als DVD + CD mit 96-minütigem 5.1-Dolby-Surround-Mix, einem
96-minütigen Stereo-Mix, zwei Musik-Videos, einer Erläuterung
des DE9-Konzepts, Ausschnitten der Plastikman-Live-Gigs und eine
74-minütige Stereo-Version des Mixes auf der CD. Danke Nikolaus,
darf man da sagen. Pieta Brown kommt da auf ihrem Album „in
the cool“ mit extrem viel weniger aus. Die Wurzeln und Grenzen
zwischen Folk, Country, Blues und Rock lotet sie geschickt aus,
denn man verliert sein Herz in und an Pieta Brown nach wenigen Sekunden.
Traurige wie groovende Songs umgarnen die Hörerseele und fädeln
so patent die trübselige Jahreszeit ein.
Lisa Miskovsky ist 29, Schwedin und Profi- Snowboarderin. Entspannung
vom Wettkampf findet sie beim Songwriting, das hat sie ganze 13
Mal auf „Fallingwater“ nicht unkundig dargelegt. Als
Hörer findet man sich in den Regionen um Sheryl Crow, Heather
Nova, Faith Hill oder Jewel wieder, stellt aber schnell fest, dass
die nordische Wehmut in den Songs der Lisa Miskovsky zu einem eigenen
Charakter verhilft und das Album somit mehr als hörenswert
macht. Mozez (Osmond Wright) wuchs als Sohn eines Ministers in Manchester,
Jamaika, auf. Seine Vorbilder heißen Marvin Gaye und Otis
Redding. Und Mozez hat ohne weiteres die Stimme, das Timbre und
den „Drive“ den beiden nachzufolgen. Mozez entführt
uns in seine Musikwelt ohne Allüren. Es gibt Soul, es gibt
Elektro, es gibt Blues und natürlich R&B. Das gute daran:
Mozez winkt nicht mit den Zaunpfahl. Bei ihm fließt eines
ins andere und ergibt letztendlich einen homogenen Song, der mit
wärmsten Herzavancen gefüllt ist. Unbedingt antesten.
Boozed kommen aus der Provinz Bramsche und sind damit ein nationales
Eigengewächs. Ein zu beachtendes noch dazu, denn wie unverbraucht
man Vorbilder wie AC/DC, Stones, oder Deep Purple in den eigenen
Sound einbauen kann, zeigt Boozed (im Band-Durchschnitt knapp 20
Jahre) imponierend. Tragend und im Gedächtnis bleibend erweist
sich die Stimme des Sängers, die sich für das angegebene
Alter fast schon Besorgnis erregend rau anhört.
Komplett verrückt darf man das Experiment-Album „Martell
présente son interprétation personelle du post-pop“
einstufen. Der Sänger, Komponist und Schlagzeuger Martell Beigang
(etwa Swinger Club oder Dick Brave & The Backbeats) hat einfach
mal alles an Schnipsel, Ideen und Fragmenten gesammelt, was zu einem
Popsong gehört. Das Urkomische daran: Er hat es so gelassen,
nichts bearbeitet und mit 20 Musikergästen die Atomteilchen
als Kreativzelle verwendet, um neue Songs entstehen zu lassen. Dass
sich Kontrabass und Rockgitarre treffen oder Sägen mit Orgeln
verzahnen, scheint bei Martell also dann doch weniger Experiment
zu sein. Es hat fast den Anschein, dass er genau wusste, was herauskommt,
wenn dieses Experiment mit Probanden Lisa Bassenge, Xaver Fischer
oder Rhani Krija (Sting) losgeht. Ein Album fürs Risiko. Sarah
Morrow & The American All Stars in Paris gingen neue Wege. Eigentlich
ist die von Ray Charles entdeckte Posaunistin Sarah Morrow ja im
Funk zu Hause, doch die Stadt der Liebe inspirierte sie derart,
dass sie sich sämtliche American All Stars ins Studio holte
und Swing Standards in bezaubernder Manier und mit jeder Menge Pep
einspielte. „Love For Sale“ von Cole Porter, „I
Got it bad and that ain’t good“ von Duke Ellington oder
„All Star Boogie“ von Sarah Morrow sind einfach charmant
und unüberhörbar.
Den Rest zum Fest bekommen wir dann von Eileen Rose und „Come
The Storm“. Mit ihrem dritten Album macht Eileen Rose einen
großen Schritt heraus aus dem Schatten kollegialer Songwriterinnen.
Einfühlsame Songs zwischen Rock, Pop, Country- und/oder Indiefolk
prägen ein typisches amerikanisches Volksmusik-Album. Gitarren
weinen, Pianos jubilieren, Eileen Rose hält alles gnadenlos
zusammen und öffnet kleine Advents- Kalender-Türchen,
die Licht und Herzschmerz versprühen.
Sven Ferchow
Diskografie
• V.A.: Snow 3 – The Get Easy! Christmas Collection
III (18.11.2005, Brunswick)
• V.A.: 11 Top Musical Stars – Christmas Stories (21.10.2005,
Fireball)
• Richie Hawtin: DE9/Transitions (31.10.2005, Novamute)
• Pieta Brown: in the cool (11.11.2005, One Little Indian)
• Lisa Miskovsky: Fallingwater (4.11.2005, Stockholm Records)
• Mozez: So Still (31.10.2005, Apace Music)
• Boozed: Tiger Pants (18.11.2005, Bitzcore)
• Martell présente son interprétation personelle
du post-pop (4.11.2005, Caramelle)
• Sarah Morrow & The American All Stars in Paris (16.11.2005,
Loop Productions)
• Eileen Rose: „Come The Storm“ (4.11.2005,
Rough Trade)