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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 37
54. Jahrgang | November
Rezensionen
Wagner total
Neues und Älteres auf DVD und CD
Bayreuth fand diesen Sommer im Kino statt. Wer überraschenderweise
keine Karten für den Grünen Hügel bekommen hatte,
konnte statt auf harten Sitzschalen im Festspieltreibhaus auf Luxuspolstern
in klimatisierten Lichtspieltempeln Platz nehmen. Man gab den Ring
des Nibelungen in der Inszenierung eines jungen französischen
Schauspielregisseurs. In einigen Kinos soll es am Ende zu spontanen
Beifallsbekundungen gekommen sein. 25 Jahre Chéreau-Ring
(1980 fiel der letzte Vorhang) galt es zu feiern – eine Erfolgsgeschichte.
Dass diese über den Umweg heftigster Proteste verlief, muss
hier nicht ein weiteres Mal nacherzählt werden. Auch die Tatsache,
dass Patrice Chéreau über weite Strecken nichts anderes
getan hat, als George Bernard Shaws brillante marxistische Analyse
aus „The perfect Wagnerite“ auf die Bühne zu bringen
(und damit nicht der Erste war), ist mittlerweile in jedem besseren
Opernführer nachzulesen. Was wäre also angesichts der
erneuten und – so versichert zumindest die Universal –
in der Klangqualität neuerlich verbesserten Veröffentlichung
auf DVD zu berichten?
Nun, zum einen scheint sich die Aufbereitung mit neuester DTS-5.1-Technik
(wie schon bei den früheren Unitel-Neuauflagen, siehe nmz 7/8-2005)
nicht unbedingt vorteilhaft auf die Präsenz der Gesangsstimmen
auszuwirken; der weiterhin verfügbare gute alte Stereo-Klang
scheint mir da doch immer noch bessere Ergebnisse zu erzielen. Zum
anderen ist leider festzuhalten, dass die Ausstattung den Ansprüchen
an eine Jubiläumsedition dieses Kalibers nicht ganz gerecht
wird.
Da gibt es zwar eine (wie alle Ring-Teile auch separat erhältliche)
Making-of-DVD, die datiert aber aus den 80er-Jahren und ist eine
eher konventionelle dokumentarische Begleitung der Verfilmung, die
damals (als erste komplette Ring-Produktion) ins Fernsehen kam.
Als lose Abfolge von Interviewausschnitten, Probenfragmenten und
oberflächlichen Ausflügen in die Historie der Ring-Inszenierungen
kann sie nicht viel mehr sein als ein Appetitanreger. Immerhin wird
die Handlung in den Booklets mit Bezug auf Chéreaus Inszenierung
nacherzählt, die Chance einer fundierten Auseinandersetzung
mit seinen interpretatorischen Ansätzen, für die das Medium
ideal wäre, wird indes nicht genutzt. Von einer zusätzlichen
Tonspur mit Kommentaren zur laufenden Aufführung (idealerweise
mit Chéreau und Boulez) – wie es bei gut ausgestatteten
Kinofilmen auf DVD Usus ist – wagt man gar nicht zu träumen.
Ärgerlich schließlich, dass in den Titelmenüs keine
Szenen anwählbar sind, sondern nur die kompletten Akte.
Und doch bleibt diese Verfilmung natürlich ein Ereignis.
Chéreaus frappierend stimmige Bildersprache hat sich nicht
von ungefähr derart ins kollektive Gedächtnis eingebrannt,
dass sie zum festen Bestandteil der Wagner-Rezeption geworden ist:
Das Wasserkraftwerk (Arbeitsplatz der Rheintöchter), das unerbittliche
Pendel im Salon des gutbürgerlich-göttlichen Ehepaars,
Siegfrieds dampfbetriebener Schmiedehammer, Brünhilde, wie
sie von Gunther hinter sich hergezerrt wird – ein erniedrigter
Engel, das Haar beschämt übers Gesicht geworfen. Oder
die gerade im Rheingold zahlreichen Szenen köstlichen Humors,
die nicht von ungefähr um das heimliche Zentrum dieses Vorspiels
kreisen: um Heinz Zedniks überragenden Loge, eine – wie
sein Mime im Siegfried – darstellerisch wie sängerisch
singuläre Leistung. Ein weiterer Glanzpunkt innerhalb des leider
nicht durchweg beglückenden Ensembles: die Fricka der Hanna
Schwarz. Aber auch der vokal schwächere Donald McIntyre hat
als Wotan in der Walküre große Momente, ebenso Gwyneth
Jones’ Brünhilde im jeweils ersten Akt der Walküre
und der Götterdämmerung.
Entscheidend für die Gesamtwirkung ist aber Chéreaus
akribische Detailarbeit am darstellerischen Ausdruck, die für
die von Altmeister Brian Large souverän bewältigte Verfilmung
noch intensiviert wurde. Und natürlich Boulez’ luzides,
dramatisch stets schlüssiges Dirigat, das gerade in der Kunst
der Übergänge und der subtilen Gewichtsverlagerung in
der Begleitstruktur all das mehr als aufwiegt, was vordergründig
an emphatischer Kraft- und Klangentfaltung zu fehlen scheint.
Die Konkurrenzlosigkeit dieser Produktion erweist sich gerade
im Vergleich mit weiteren neu erschienenen Ring-Aufnahmen. Kann
Harry Kupfers Bayreuther Walküre von 1992 mit einem vor Spannung
berstenden ersten Akt zunächst noch mithalten, so erweist sich
seine verödete Szenerie insgesamt doch als eher lähmend.
John Tomlinsons Wotan, ein Halbstarker in der Midlife-Crisis, artikuliert
zwar vorbildlich, was er aber am Ende in die lasergestützte
Feuersbrunst hineinbrüllt, hat mit Gesang kaum mehr etwas zu
tun. Barenboims immer wieder gnadenlos über die Stimmen herfallendes
Orchester klingt zwar brillanter und plastischer in den klangmalerischen
Passagen als dasjenige Boulez’, ein Ersatz für die mitunter
abhanden kommende Innenspannung ist dieser phasenweise knallige
Sound (der auch den Sängern nicht schmeichelt) aber nicht.
Eine substanzielle Weiterentwicklung von Kupfers Interpretation
kann man in der aus Berlin nach Barcelona exportierten neueren Produktion
aus dem vergangenen Jahr kaum erkennen (auch wenn manch szenische
Verwandlung spektakulär vonstatten geht). Wohl aber den vokalen
Niedergang des Graham Clark, der in Bayreuth noch einen überragend
präsenten Loge und Mime gesungen (!) hatte und nunmehr in einen
schrill überzeichneten Sprechgesang ausweichen muss. Deborah
Polaskis Brünhilde bewegt sich auf solidem Niveau, ansonsten
herrscht sängerisches Mittelmaß. Barcelonas Opernchef
Bertrand de Billy wäre ohne Frage ein interessanter, mit großer
Klarheit disponierender Ring-Dirigent, das Orchester des Teatre
del Liceu ist den enormen Anforderungen der Partitur aber nur phasenweise
gewachsen. Eine im direkten Hörvergleich mit den Bayreuther
Klangkörpern mitunter schmerzliche Erfahrung.
Neue Maßstäbe setzt indes die im Schlingensief-Jahr
auf der Baden-Badener Festspielbühne umjubelte Parsifal-Alternative.
Nikolaus Lehnhoffs in ihrer visuellen Klarheit bestechende, streng
werkorientierte, dabei aber nie rückwärts gewandte Darstellung
ist vom Kamerateam in perfekter Übereinstimmung mit der dem
Stück innewohnenden gespannten Ruhe umgesetzt worden. Dass
es außerdem gelang, ein Sängerquartett von solch außergewöhnlicher
vokaler wie szenischer Präsenz zu verpflichten, macht diesen
Mitschnitt zu einem Dokument ersten Ranges. Kent Naganos insgesamt
vielleicht eine Spur zu kühl-distanzierte orchestrale Umsetzung
erweist sich in ihrer dynamischen Zurückhaltung als Voraussetzung
für eine auch im Vokalen geradezu kammermusikalische, von allem
vordergründigen Opernpathos befreite Aufführung. Christopher
Ventris in der Titelpartie, Waltraud Meier als Kundry, Thomas Hampson
als Amfortas und Matti Salminen als Gurnemanz können so den
Beweis antreten, dass lyrischer Wagner-Gesang nicht nur in Bezug
auf die Dynamik möglich ist. Schade, dass die Männerstimmen
des Chores dieses hohe Niveau nicht halten können.
Als Bonus enthält auch diese Box einen Film zur Parsifal-Produktion.
Sie beschränkt sich, durchaus plausibel, auf eine von Regisseur
und Sängern kommentierte Nacherzählung der Handlung: Lehnhoff
eloquent dozierend, die Sänger im Plauderton, aber ihre Rollen
auch sehr bewusst reflektierend.
Dass ein Belcanto-Tristan möglich ist, das wollte Placido
Domingo schon lange einmal auf Platte beweisen. Und hat sich diesen
Traum nun in einer für heutige Verhältnisse kaum mehr
für möglich gehaltenen Studioproduktion erfüllt.
(Es wurde schon die Vermutung geäußert, der anonyme Spender,
der diese Aufnahme ermöglicht habe, sei niemand anderes als
Domingo selbst.) Die Argumente pro und contra Domingos Wagner-Gesang
sind bekannt: Die einen ergötzen sich zurecht an seiner im
Wagnergesang rar gewordenen Legatokultur und seinem nach wie vor
betörenden Stimmklang, die anderen bemängeln mit gleicher
Berechtigung seine Textbehandlung. Zweifellos hat er für die
Aufnahme nochmals hörbar daran gearbeitet. Dialogische Passagen
in mittlerer Lage ohne Extreme in Tempo und Dynamik gelingen ihm
recht gut, sobald es aber – wie im 2. Akt im Liebesrausch
mit Isolde – in schnellere, emphatische Passagen geht, verschwinden
immer wieder sinntragende Buchstaben und – was schwerer wiegt
– Domingo scheint regelrecht über den Text hinwegzusingen.
Ansonsten ist ein mit Nina Stemmes Isolde, Olaf Bärs Kurwenal
und René Papes Marke sehr gut und mit Rolando Villazóns
Seemann und Ian Bostridges Hirten luxuriös besetztes Ensemble
zu hören, dem Antonio Pappano und das Covent Garden Orchestra
einen leidenschaftlichen und detailgenauen Klang-teppich unterlegen
(ohne freilich an Kleibers diskografische Tristan-Großtat
heranzukommen). Auf der Bonus-DVD ist die komplette Aufnahme auch
in Surround-Klang verfügbar, dazu das Libretto in Bildschirmdarstellung.
Fehlt also eigentlich nur eine Version ohne Gesang für einen
beschaulichen Karaoke-Abend.
Juan Martin Koch
Diskografie
Der Ring des Nibelungen (Regie: P. Chéreau): Donald McIntyre,
Heinz Zednik, Hanna Schwarz, Gwyneth Jones, u.a.; Orch. Bayreuther
Festspiele, Pierre Boulez; 8 DVD (incl. Making of) Universal 00440
073 4057
Der Ring des Nibelungen (Regie: H. Kupfer): Falk Struckmann,
Graham Clark, Deborah Polaski, John Treleaven u.a.; Orch. Gran
Teatre del Liceu Barcelona, Bertrand de Billy, 9 DVD Opus Arte
OA 0910/11/12/13 D
Die Walküre (Regie: H. Kupfer): Poul Elming, Nadine Secunde,
John Tomlinson, Anne Evans u.a.; Orch. Bayreuther Festspiele,
Daniel Barenboim; 2 DVD Warner 2564 62319-2
Parsifal (Regie: N. Lehnhoff): Christopher Ventris, Waltraud
Meier, Matti Salminen, Thomas Hampson u.a., DSO Berlin, Kent Nagano;
3 DVD Opus Arte OA 0915 D
Tristan und Isolde: Placido Domingo, Nina Stemme, Mihoko Fujimura,
Olaf Bär u.a.; Covent Garden Orch., Antonio Pappano; 3 CD
+ DVD EMI 7243 5 58006 2 6