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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 42
54. Jahrgang | November
Noten
Charmant, virtuos und kraftvoll
Zu neuen Klaviermusiken von Poulenc, Glaser und Heucke
Neben Arthur Honegger gehört Francis Poulenc (1899–1963)
zu den noch heute häufiger im Konzertsaal präsentierten
Mitgliedern der „Groupe des Six“. Entscheidende Eindrücke
empfing er durch den spanischen Pianisten Ricardo Viñes,
der ihn nicht nur auf dem Klavier ausbildete, sondern ihm Kontakte
zu Komponistenkollegen verschaffte und ihn in die Pariser Gesellschaft
einführte. Viñes war besonders durch seine Interpretation
französischer und spanischer Musik berühmt geworden; er
hatte Uraufführungen vor allem von Ravel, aber auch von Debussy,
Satie sowie de Falla und Albéniz bestritten. Bei Poulenc,
der auch als Pianist eigener Werke auftrat, bildet die Klaviermusik
mit vielen charmant-leichtgewichtigen Beiträgen einen Schwerpunkt
in seinem Schaffen. Zu seinen bekannteren Stücken gehören
das „Konzert d-Moll für zwei Klaviere und Orchester“
(1932) sowie die „Toccata“ aus den „Trois pièces
pour piano“ (1928), die Horowitz in sein Repertoire aufnahm.
Als neues Heft publiziert der Verlag Heugel (HE 33756) die Vorform
der drei Stücke von 1928, die 1917 unter dem Titel „Trois
Pastorales“ entstanden waren. Der Herausgeber Carl B. Schmidt
berichtet in einem dreisprachig gedruckten Aufsatz (französisch,
englisch, deutsch) über die Entwicklungsstufen von 1917 über
1928 bis zu einer endgültigen Fassung von 1953. Unter HE 30877
und HE 30880 legt Heugel aus der zwischen 1929 und 1938 entstandenen
Sammlung zwei Nocturnes wieder vor, Nr. 4 (1934) mit dem Untertitel
„Bal fantôme“, ein langsamer Walzer in C-Dur,
in den Mazurka-Rhythmen eingeflossen sind, und Nr. 5 (1934) ist
ein brillantes „Presto misterioso“ in d-Moll, dessen
ursprünglicher Titel „Phalènes“ (Nachtfalter)
nicht in der Partitur abgedruckt ist.
Eine wahre Entdeckung ist der 1913 in Köln geborene, bis
heute fast unbekannt gebliebene Komponist Werner Wolf Glaser, dessen
1933 entstandene „Sonata I per pianoforte“ Otfried Richter
im Robert Lienau Musikverlag (RL 40780) als Erstausgabe vorgelegt
hat, ergänzt durch ein Herausgebervorwort. Richter hat zudem
im Verlag Dohr, Köln, ein Werner-Wolf-Glaser-Werk-Verzeichnis
veröffentlicht. Glaser studierte bei Philipp Jarnach in Köln
und wurde auch von Paul Hindemith unterwiesen. Wegen seiner jüdischen
Herkunft floh er 1933 über Frankreich nach Dänemark und
1943 weiter nach Schweden, wo er Leiter einer Musikschule wurde.
Wie Brahms mit seiner Klaviersonate C-Dur hat Glaser seine schon
in Saumur/Frankreich komponierte „Sonata I“ –
nach vorangegangenen Versuchen – bewusst als opus 1 an den
Anfang seines vollgültigen Schaffens gestellt. Das kraftvolle,
ausdrucksstarke Stück erfordert großes technisches Können,
besonders im ersten und dritten Satz. Letzterer ist ein „Allegro
molto legato ed egualmente“, das über weite Strecken
aus einer Art „perpetuum mobile“, zum Teil in Parallelbewegung,
besteht; solche prekären Passagen hat auch Hindemith gern in
virtuosen Sätzen geschrieben. Bei allen technischen Problemen
ist zu spüren, dass Glaser mit den Möglichkeiten des Klaviers
vertraut ist; in den 30er-Jahren hat er die Sonata in Kopenhagen
selber uraufgeführt. Die deutsche Erstaufführung fand
mit fast 70-jähriger Verspätung 2001 in Ulm durch den
Geiger und Pianisten Kolja Lessing statt. Dieser schildert seinen
ersten Eindruck von dem Stück in einem Nachwort zur Druckausgabe:
„…Als ich das Werk im Frühjahr 2000 kennen lernte,
faszinierten mich sogleich seine außergewöhnliche Intensität,
seine mitreißende Kraft im Spannungsfeld zwischen ekstatischer
Eruption und magischer Melancholie …“ Das Œuvre
von Werner Wolf Glaser umfasst auch ein reiches Schaffen für
Orchester, darunter etwa ein Dutzend Sinfonien. Es wäre ein
echter Gewinn, seine Sinfonik endlich kennen lernen zu dürfen.
Der 1959 geborene Bochumer Stefan Heucke gilt unter Kennern zeitgenössischer
Musik als Geheimtipp, wurden doch Kompositionen aus seiner Feder
im In- und Ausland nicht nur aufgeführt, sondern auch produziert
und gesendet. In seinem Œuvre finden sich Sinfonien ebenso
wie Vokalwerke und Kammermusik in unterschiedlichen Besetzungen.
Seit 1996 wird er vom Schott-Verlag betreut.
Da Heucke in Stuttgart und Dortmund ein Klavierstudium absolvierte,
ist es nicht überraschend, dass er bereits mehrfach für
dieses Instrument geschrieben hat. Einen bedeutenden Beitrag dazu
liefert er mit dem hier vorgelegten Zyklus „Nacht-Urnen, Fünf
Fantasiestücke für Klavier“, der zwischen 1998 und
2000 entstand (Einzelausgaben unter ED 9145, 9146, 9368, 9369 und
9370). Das umfangreiche und sehr schwierige opus 32 umfasst knapp
30 Minuten Dauer. Der Autor im Vorwort: „Der Titel des Klavierzyklus’
‚Nacht-Urnen‘ ist ein makabres Wortspiel mit dem französischen
Begriff ‚Nocturne‘. Die Assoziation Urne – Grabgefäß
ist beabsichtigt, denn die Gattung des romantischen Nachtstücks
für Klavier wird in diesen Stücken – zumindest im
übertragenen Sinne – zu Grabe getragen.“
Der Zyklus besitzt eine bemerkenswerte Ausstrahlung, die von Ernsthaftigkeit,
expressiver Sprache und einer breit angelegten Skala von Emotionen
geprägt ist. Er weist eine Virtuosität auf, die mit neuen
Mitteln an große romantische Werke von Schumann und Liszt
anknüpft und bis in infernalische Bereiche gelangt, wie man
sie aus Etüden von Liszt und von Ligeti kennt. Mit dem Zyklus
hat Stefan Heucke ein großartiges Werk geschrieben, das die
Tradition romantischer Klaviermusik in der dem Komponisten eigenen,
durch das 20. Jahrhundert geprägten Sprache weiterführt.