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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 12
54. Jahrgang | November
Semmelmann
Die Musik ist tot
Zurzeit dreht sich alles um Politik. Nein, falsch. Stop. Zurzeit
dreht sich alles um Politiker. Jetzt isses richtig. In Pakistan
sterben durch ein furchtbares Erdbeben und seine unmittelbaren Folgen
weit mehr als 54.000 Menschen und durch den einsetzenden Winter
werden es voraussichtlich – glaubt man den üblichen Schwarzmalern
und chronischen Miesmachern – nochmal so viele sein. Nur nebenbei
bemerkt: Die USA machen täglich an die elf Millionen Dollar
locker, um obdachlose New-Orleans-Opfer in Hotels unterzubringen,
während die Weltgemeinschaft den Hunderttausenden, die in Guatemala
und El Salvador durch den Hurrikan Stan obdachlos wurden, tutto
completto gerade mal dreieinhalb Millionen aus den Gucci-Spendierhosen
geholt hat. Das ist Stand Mitte Oktober, aber deswegen nicht weniger
beschämend.
Davon haben Sie seinerzeit gar nix in den Nachrichten mitbekommen?
Eben. Nun rast erneut ein Hurrikan, diesmal mit dem herzigen Namen
Wilma, auf Mittelamerika zu. Die Menschen dort haben also nicht
mal Zeit sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob und wie ihr
Leben weitergeht. Bei uns hingegen zerbricht man sich darüber
den Kopf, warum Stasi-Kollaborateur Lothar Bisky nicht zum Bundestagsvize
gewählt wird. Oder ob Angélique Merkel nun eine schwache
oder starke Kanzlerin sein wird. Ob der Schröder sich ganz
aus der Politik zurückzieht oder wie oder was. Die deutsche
Gehirnpygmäenzucht, vertreten durch sein effektivstes Propagandainstrument,
die Glotze, will uns, dem von der Politik so oft gepriesenen und
stets hochgehaltenen Souverän, vermitteln, wir hätten
als Wähler mal wieder das ganz große Rad gedreht.
Heute Vormittag, ich fuhr bei Sonnenschein übers Land, schwadronierte
Herr Ulrich Wickert in unserem schwäbischen SWR1 über
sich und die Welt. Natürlich hauptsächlich über sich.
Auf das Ergebnis der Bundestagswahl angesprochen, sagte er: „Der
Wähler ist äußerst intelligent.“ Als ich das
hörte, habe ich sofort den Sender gewechselt. Ich kann dieses
Scheißgeschwätz einfach nicht mehr ertragen. Schon gar
nicht beim Autofahren. Viel zu gefährlich. Wickerts Gesprächspartner
war aber sehr, sehr angetan. Ich, der Souverän, warte nun schon
geraume Zeit darauf, dass mir endlich mal einer der Berliner Narzissen
erzählt, was sie denn nun endlich zu tun gedenken. Zum Beispiel
von wegen der nicht vorhandenen Arbeitsplätze. Lese aber gerade,
dass sich die Koalitionsverhandlungen bis Mitte November ziehen
werden. Am 11.11. beginnt die neue Karnevalssession, was ja ganz
hervorragend zusammengeht. Schließlich hat Berlin inzwischen
auch einen Rosenmontagszug. Ach ja, Herr Wickert findet die große
Koalition übrigens spannend. Weil da echte „Techniker“
dabei sind. Frau von der Leyen und Frau Schavan beispielsweise.
Er hat erklärt, was er damit meint, aber ich hab’s, obwohl
ich der Souverän und angeblich „äußerst intelligent“
bin, nicht verstanden.
Ich weiß, dies alles hat nix mit Musik zu tun. Aber man
muss auch mal über so was ein paar Worte verlieren können.
Heute Mittag wieder zuhause angekommen, hab ich meiner Gibson SG
eine offene D-Stimmung verpasst, an meinem Gitarrenverstärker
die britische Einstellung (alle Regler auf 10) gewählt und
mich und meine Nachbarn mit ein wenig herzerfrischendem Death-Metal
erfreut. Und dem Nächsten, der mir erzählt, er findet
die Große Koalition „spannend“, dem hau’
ich eine rein.