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nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 34
54. Jahrgang | November
ver.die
Fachgruppe Musik
Der Lehrer der Lehre: Leo Kestenberg
Berliner Symposium untersucht das beispiellose Reformwerk des
Musikpädagogen
Bei einem musikpädagogischen Kongress konnte es schon einmal
passieren, dass der zuständige Ministerialbeamte vorübergehend
verschwand. Er hatte irgendwo ein Klavier entdeckt und sich zum
Klavierspielen zurückgezogen, ehe er sich mit Elan weiter an
den Diskussionen beteiligte. Die Rede ist von Leo Kestenberg (1882–1962),
Pianist und Pädagoge, der nach der Novemberrevolution 1918
als „Referent für musikalische Angelegenheiten“
ins Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und
Volksbildung berufen wurde und bis 1932 ein beispielloses Reformwerk
begann.
Dass Busoni, Schreker, Pfitzner, Hindemith und Schönberg als
Kompositionslehrer nach Berlin berufen wurden, geht auf ihn zurück.
Er war es auch, der hinter dem „Experiment Krolloper“
stand, ein Ort für Avantgardeaufführungen mit dem Dirigenten
Otto Klemperer, an dem in den drei Jahren seines Bestehens neben
klassischem Repertoire auch Werke von Strawinsky, Krenek, Debussy,
Schönberg, Hindemith aufgeführt wurden. Er ermöglichte
die Gründung von Volks- und Jugendmusikschulen, ließ
die Qualifikation privater Instrumentallehrer prüfen und begründete
eine entsprechende Ausbildung. Er entwickelte ein musikpädagogisches
Konzept, das vom Kindergarten über sämtliche Schultypen
bis hin zur Lehrerbildung reichte.
Die Kunst dem Volke
Nur wer große Gegensätze zu umgreifen versteht, kann
so umfassend wirken, wie es Kestenberg gelang. Sozialdemokratische
und gewerkschaftliche Kulturpolitik unter dem Volksbühnen-Motto
„Die Kunst dem Volke“ – das bedeutete etwa in
Arbeiter-Konzerten einen Beethoven-Zyklus zu veranstalten mit sämtlichen
Klaviersonaten, gespielt von Arthur Schnabel. Kestenberg, der solche
Konzerte organisierte und zum Teil dabei selber auftrat, legte Wert
auf hohes künstlerisches Niveau und auf Anschluss an die aktuellen
kompositorischen Entwicklungen.
Einheitliches Konzept
Eine Schulpolitik, wie sie der Jugendbewegung vorschwebte, verband
mit der reformpädagogischen Forderung nach einer „Pädagogik
vom Kinde aus“ die Absage an Konzertkultur und Virtuosentum.
Kestenberg arbeitete eng mit Repräsentanten der Jugendmusikbewegung
zusammen.
Kestenberg stellte sich als erster den Aufgaben, die bis heute
an zentrale Fragen der Musikpädagogik rühren: Wie verbindet
man einen Unterricht, der vom Kind und dessen Aufnahmefähigkeit
und Interessen ausgeht, mit einem Kulturbegriff, der anspruchsvollste,
durchaus auch (noch) unpopuläre Werke fördern und einem
breiten Publikum nahebringen will? Kestenberg setzte auf ein einheitliches
Konzept, das „Musikerziehung und Musikpflege“ umfasst.
Der Anspruch, beides zugleich zu bewirken, konnte nur in einer
Zeit heranreifen, die leidenschaftlich darum rang, die Vereinzelung
der Menschen und die rationalistische Zergliederung der modernen
Welt zu überwinden. Darin liegen beträchtliche Gefahren:
Ein Kult der Gemeinschaft und des Irrationalen läuft Gefahr,
bestehende Widersprüche zu leugnen oder sie angeblichen Gemeinschaftsfeinden
zum Vorwurf zu machen. Kestenberg entging diesen Gefahren durch
eine beispielhafte Integrationsfähigkeit. In seinen Texten
zeigt sich ein weiter historischer Horizont und der feste Glaube,
dass mit den erkennbaren gesellschaftlichen und kulturellen Zuständen
die Entwicklungsmöglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft
sind.
Doch Kestenberg war nicht nur ein Visionär, sondern zugleich
ein Pragmatiker, ein geschickter Politiker und ein kompetenter Verwaltungsfachmann.
Zur Reform trug er nicht allein mit seiner programmatischen Schrift
„Musikerziehung und Musikpflege“ bei, vielmehr arbeitete
er gemeinsam mit seinen Mitstreitern Richtlinien und Erlasse aus,
die den ganzen Bereich der Musikpädagogik Preußens erneuern
sollten – und wegen ihrer Ausstrahlungskraft in ganz Deutschland
Wirkung taten.
Dass er sich ein fächerübegreifendes Hineinwirken der
Musik in die Schule wünschte, hinderte ihn nicht daran, für
jeden Schultyp Lehrpläne im Fach Musik zu entwickeln. Er setzte
mehr auf die persönliche Ausstrahlung von Lehrern als auf vorgegebene
Methoden, unterstrich die Bedeutung einer qualifizierten Lehrerbildung,
gründete Ausbildungseinrichtungen, erließ Prüfungsordnungen
und sorgte damit auch für eine Gleichstellung der Musiklehrer
mit den anderen Lehrern.
Wirksam bis in die Gegenwart
Die Kestenberg-Reform hat unübersehbare Spuren hinterlassen.
Am deutlichsten vielleicht in der Professionalisierung der Lehrerausbildung.
Doch auch die Schulmusikwochen, die er gründete, werden noch
heute in der Bundesrepublik ausgerichtet. Die von ihm herausgegebene
„Musikpädagogische Bibliothek“ wird immer noch
fortgeführt. Der Verband der Schulmusiker ehrt verdiente Persönlichkeiten
mit der Kestenberg-Medaille. Dabei rückt Kestenbergs Wirken
nach der Weimarer Republik erst allmählich in den Blick. Im
Januar 1933 musste Kestenberg Deutschland verlassen. Die Nationalsozialisten
verfolgten ihn, weil er Jude und Sozialist und Repräsentant
der demokratischen Institutionen der Weimarer Republik war. Selbst
in dem antisemitischen Film „Der ewige Jude“ (1940)
wurde gegen Kestenberg gehetzt.
Er floh nach Prag, wo er als Pianist, und bald als Organisator
internationaler musikpädagogischer Begegnungen tätig war.
1938 war er auch in Prag vor den Nazis nicht mehr sicher und emigrierte
nach Palästina. Hier trat er vor allem als Lehrer in Erscheinung.
Seine Lebenserinnerungen „Bewegte Zeiten“ fanden jedoch
in Israel keinen Verleger und erschienen 1961 nur in Deutschland.
„Es ist an der Zeit, die Kestenbergreform fortzusetzen.
Sie ist noch nicht zu Ende“, sagte Bernhard Wallerius in einem
Vortrag auf dem ersten Kestenberg-Symposium 1986. Je mehr die Musikpädagogik
über die Grenzen der „Musischen Erziehung“ hinausblickt,
desto deutlicher wird erkennbar, um wie viel weiter der Denkhorizont
Kestenbergs reichte.
Wieder ein Symposium
Fast zwanzig Jahre später findet wieder ein Kestenberg-Symposium
statt: Es wird im Rahmen eines Projekts der Universität der
Künste und der „Leo Kestenberg Musikschule“ Berlin,
gefördert von der DFG, vom 1. bis 4. Dezember 2005 abgehalten.
Diesmal ist auch Gelegenheit, etwas über die bisher weniger
bekannten Stationen seines Wirkens zu erfahren. Dank der Zusammenarbeit
mit dem Israelischen Musikarchiv der Universität Tel Aviv kann
auch bisher unerschlossenes Archivmaterial über Kestenberg
präsentiert werden. Referenten aus Deutschland, Tschechien,
Israel sprechen über Kestenbergs Per- sönlichkeit und
seine musikpädagogischen Konzepte, seine Berliner und Prager
Zeit sowie sein Judentum und seine Zeit in Palästina/Israel.
Eine Wanderausstellung rückt den Beitrag Kestenbergs an der
Entstehung der modernen Musikschulen in den Vordergrund und vergleicht
die Anfänge der Musikschulentwicklung mit der heutigen Arbeit.
Aus Israel konnten Zeitzeugen Kestenbergs eingeladen werden.
Ein Podiumsgespräch mit ihnen wird vom „Deutschlandradio
Kultur“ mitgeschnitten. Dazu stehen Konzertbeiträge auf
dem Programm. – Ganz im Sinne Leo Kestenbergs, der auf musikpädagogischen
Kongressen immer Musik einbezog und bei Gelegenheit gerne auch selber
spielte.