[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2005/11 | Seite 48
54. Jahrgang | November
Wortlaut
Wortlaut
Große Erzählung
Norbert Lammert
Ich halte die damalige sehr kurze und voreilig abgebrochene Debatte
zum Thema Leitkultur für eine der spannendsten Phasen unter
dem Gesichtspunkt einer Beleuchtung der geistigen Verfassung der
Nation. Zu den Auffälligkeiten dieser Kurzdebatte gehörte,
dass es eine breite, reflexartige Ablehnung des Begriffes gab, obwohl
– oder weil – sich in der Debatte herausstellte, dass
es eine ebenso breite Zustimmung für das gab, worum es in der
Debatte ging. Dass es in jeder Gesellschaft Überzeugungen geben
muss, die möglichst breit verankert sind, ist eine Binsenweisheit.
Kein politisches System kann seine innere Legitimation ohne solche
gemeinsam getragenen Überzeugungen aufrechterhalten –
schon gar nicht in schwierigen Zeiten wie heute, in denen nicht
Wohlstandszuwächse verteilt, sondern Ansprüche eingesammelt
werden müssen. Ohne Leitkultur im Sinne solcher allgemein akzeptierten
Orientierungen und Überzeugungen – Sie können meinetwegen
auch von Großer Erzählung reden – lassen sich die
Lösungen für unsere komplexen Probleme nicht konsensfähig
machen. Wir müssen diese Debatte wieder aufgreifen und weiterführen.
Dieser Wortlaut ist einem Interview aus „Die ZEIT“
vom 20. Oktober 2005 entnommen. Der neue Bundestagspräsident
Norbert Lammert antwortete auf eine Frage zur Leitkultur und zu
einer neuen kollektiven Orientierung der Gesellschaft.
Kulturelle Neugier
Wolfgang Thierse
Es gibt viele Menschen, die sagen: Da wir eine Staatsnation geworden
sind, bräuchten wir doch nicht mehr den Überbau der Kulturnation.
Ich halte aus Überzeugung dagegen. Ich denke, unser Verständnis
von Nation wird im zusammenwachsenden Europa immer weniger von dem
der Staatsnation und immer stärker von dem der Kulturnation
geprägt werden. Eine Vielfalt gewachsener Kulturnationen auf
dem gemeinsamen Fundament der westlichen, demokratischen Werte –
das wäre ein europäisches Verständnis von Nation,
das nicht mit der Überheblichkeit des Nationalismus liebäugelt.
Dies wäre ein Begriff von deutscher Kultur, der nicht der Aus-
und Abgrenzung bedarf, der nicht ein Begriff der kulturellen Feindschaft
und Abwehr ist. Dies wäre eine Tradition eines selbstbewusst
gelassenen, also europäisch normalen Umgangs mit der eigenen
kulturellen Identität, die sich nicht zurückdrängen
und fixieren lässt auf die Ängste des Identitätsverlusts.
Denn sie setzt auf Aufnahmebereitschaft, auf kulturelle Neugier,
auf intellektuelle Bereicherung.
Rede des damaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages,
Wolfgang Thierse, zur Eröffnung der Ausstellung „Nationalschätze
aus Deutschland - Von Luther bis Bauhaus“ in der Kunst-
und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn am
29. September 2005