Innovator und intuitiver Dirigent: Clytus Gottwald zum 80. Geburtstag
Da ist einer, ohne den die Chormusik in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts eine ganz andere und gewiss bescheidenere Entwicklung
genommen hätte, zu dem die Komponisten kamen, hörten und
mit Anregungen reich beschenkt nach Hause gingen – nicht von
vielen kann man das sagen. Da ist einer, der über Musik so
wunderbar tief, genau, intelligent und vielschichtig zu reden weiß
– wer kann das heute noch? Und da ist einer, der sich vor
allem in den letzten Jahren großer Werke der Musikliteratur
annimmt und sie in ätherisch schwebenden Chorklang übersetzt
– niemand vermag das so wunderbar, so still schön wie
er. Es ist Clytus Gottwald, der am 20. November dieses Jahres seinen
80. Geburtstag feierte.
Clytus
Gottwald, Protagonist der neuen Chorszene. Foto: Hugo Jehle
Wer seinen Namen ausspricht, denkt zugleich an die von ihm 1960
gegründete Schola Cantorum Stuttgart. Dreißig Jahre begleitete
das 16- bis 18-köpfige Vokalensemble unter der Leitung von
Clytus Gottwald die komponierenden Zeitgenossen und lehrte sie,
die wohl alle gegenüber dem Chorklang Berührungsängste
hatten, dass Chor etwas ganz anderes sein kann als muffiger falschromantischer
Männerkehlengesang. Das Misstrauen gegen solche falschen Triebe
war berechtigt, es war aber so groß, dass es für viele
den Blick auf andere Möglichkeiten verstellte. Dabei lagen
sie auf der Hand, sobald man über den Tellerrand des eingeschliffenen
Repertoires blickte. Schon früh in den 50ern hatte sich Gottwald
der Vokalmusik des ausgehenden Mittelalters und der Renaissance
zugewandt. Dort fand er ohne Schwierigkeiten das Vermisste: Singen
als Widerstreit und als Ergänzung zwischen den Ausführenden,
konstruktive Härte, Liebe zur individuellen Äußerung
der Stimme, vibrierende Süße des Klangs, der den Raum
auf ungeahnte Weise erfüllt. Während für viele Musikschaffende
aber diese Möglichkeiten unwiederbringlich vorbei waren, wollte
und konnte Gottwald diesen Verlust nicht akzeptieren. Als er 1952
zum ersten Mal die „Cinq Rechants“ von Olivier Messiaen
hörte, war er wie elektrisiert. Es war wie eine Naturbeobachtung,
die eine schon lange geahnte Theorie mit einem Schlag bestätigt.
Von jetzt an gab es für Gottwald kein Halten mehr. Der Wunsch,
auf neue Art zu singen, wurde zur Besessenheit – es war die
Besessenheit von der Art, ohne die schöpferisches Arbeiten
an der Front des musikalischen Geistes nicht denkbar ist. Dieter
Schnebel wurde, ohne dass man sich davor intensiver ausgetauscht
hätte, zu einem der ersten Gleichgesinnten. Jetzt entstand
Musik, der Gottwald von ganzem Herzen seine Stimme (oder seine Stimmen)
lieh. Von da an trieben sich die Schola Cantorum und die Komponisten
gegenseitig voran, Neues erspürend, erprobend, weitend oder
auch verwerfend. Ist eine schönere schöpferische Situation
zu denken als die, in der die Ahnungen der Musikerfinder sogleich
Widerhall und Korrektiv in praktischer Erprobung finden –
in einer Erprobung, die von gleichgerichteten Intentionen getragen
wird? Hier entstand, und Gottwald ist einer der Ersten, ein neues
Bild des Musikinterpreten mit umfassendem Sachverstand, Wille zur
harten Arbeit und unendlich viel Begeisterung für die Sache.
Der Weg war sicherlich immer wieder dornenreich, die Schwierigkeiten
aber wurden entgolten durch eine Fülle von gewichtigen, ja
exorbitanten neuen Stücken.
Kritik und Selbstkritik blieben dabei immer am Leben, aus dieser
Spannung heraus zog die Schola Cantorum auch im Jahre 1990 den Schlussstrich.
Die junge Musik, die damals entstand, war zu verschieden vom ästhetischen
Selbstverständnis des Ensembles. Auch aufhören zu können
ist eine Kunst, man hörte auf, als man sich eingestand, nicht
mehr mit allen Fasern des Geistes und des Herzens hinter den neuen
Werken stehen zu können. Also gab man den Stab an andere ab,
freilich mit dem Auftrag, das eigene Feuer weiter zu tragen. Gottwald
aber ist auch weiterhin ein kritischer Begleiter der zeitgenössischen
Musik geblieben. 1998 kam seine außerordentlich lesenswerte
Sammlung eigener Texte mit dem facettenreich sprechenden Titel „‚Hallelujah‘
und die Theorie des kommunikativen Handelns“ heraus. Denn
dieses, das kommunikative Handeln, war ihm immer das Singen im Chor.
Es war Abbild eines gesellschaftlichen Miteinanders, das Widersprüche
intern behandelt und auflöst. Hin zum Besseren. Die nmz gratuliert
zu diesem Weg, der im Weiterschreiten nie enden möge.