Das Projekt Global Interplay mit vierzig Teilnehmern aus fünf
Ländern
Ist chinesische Musik pentatonisch? Gibt es in Accra ein Sinfonieorchester?
Wie klingt die Folk Music von Berlin und New York? Seit September
dieses Jahres sind an die vierzig junge Komponistinnen und Komponisten
aus fünf Ländern weltweit über ein Internet-Forum
in einen Gedankenaustausch getreten, der bisweilen überraschende
Perspektiven auf vertraute und unbekannte Gebiete der verschiedenen
Musikkulturen aufscheinen lässt. Das Projekt „Global
Interplay“ ist Teil des ISCM World New Music Festival, das
im Juli nächsten Jahres vom Veranstalter Musik der Jahrhunderte
in Stuttgart ausgetragen wird. Die Tradition der vormaligen Weltmusiktage
reicht bis 1923 zurück, doch unter dem Titel „grenzenlos“
nimmt das Festival nun erstmals seinen globalen Anspruch beim Wort
und lässt Stimmen aus allen Regionen der Erde zu Gehör
kommen.
In New York und Berlin, Beijing und Shanghai, Kairo und Accra führen
Marcelo Toledo, Walter Zimmermann, Wenchen Qin, Shirui Zhu, Amr
Okba und Nkeiru Okoye mit jeweils vier bis acht Teilnehmern Kompositionsworkshops
durch. Bei Global Interplay geht es indes nicht um die sechs Mentoren,
die allesamt über einen interessanten interkulturellen Erfahrungshorizont
verfügen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die Studierenden
selbst ihre Umgebung und ihre Tätigkeit wahrnehmen und welche
Fragen sie sich gegenseitig stellen.
Es geht also nicht um fertige Werke. Ziel ist vielmehr, dort nachzufühlen,
wo sich so etwas wie Neue Musik noch auf der Suche nach sich selbst
befindet. Zwar gibt es notierte Musik in Ghana seit achtzig Jahren,
und Ägypten ist bereits 1938 der Internationalen Gesellschaft
für komponierte Musik beigetreten. Dennoch suchen diejenigen,
die heute in Accra und Kairo Komposition studieren, weiterhin nach
einem eigenen Weg zwischen den komplexen rhythmischen Mustern oder
den differenzierten Melodielinien der eigenen Tradition und den
Klangexperimenten der Neuen Musik.
Ägyptische Teilnehmer wollen an der Schönheit tonaler
Volksmusik festhalten. Ein Student aus Accra sieht die Aufgabe der
Komposition darin, Errungenschaften traditioneller Musik zu bewahren,
die ansonsten verloren gehen könnten. Währenddessen tauschen
sich Beteiligte der Berliner und der New Yorker Gruppe über
neue Software und computergestützte Kompositionstechniken aus.
Doch obwohl die Diskussionsstränge hier auseinander zu laufen
drohen, lässt sich zwischen den Vorlieben und Orientierungen
der verschiedenen Gruppen keine klare Trennlinie ziehen. Auch in
Accra besteht Bedarf an Information über neue Technologien.
Umgekehrt äußern mehrere Berliner Teilnehmer ein starkes
Interesse an ostasiatischer Philosophie, Musik und Kultur.
Dies stößt in den beiden chinesischen Gruppen auf Überraschung,
die im Übrigen nicht so homogen zusammengesetzt sind, wie es
auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Beteiligten stammen aus
so weit auseinander liegenden Gebieten wie Singapur, der Inneren
Mongolei und der Provinz Xinjiang im äußersten Nordwesten
Chinas, wo die traditionelle Musik der Uiguren mehr mit der türkischen,
arabischen und persischen Tradition zu tun hat als mit der ostasiatischen.
Was sie nichtsdestoweniger eint ist, dass die meisten von ihnen
bereits im Alter von drei bis fünf Jahren mit dem Klavierspiel
begonnen haben. Doch auch in China besteht ein starkes Interesse
an den musikalischen Traditionen des eigenen Landes, die von Volksmusikern
an Konservatorien unterrichtet werden.
Dem Motto des Festivals entsprechend sind der Diskussion keine
Grenzen gesetzt. Die Themen rangieren von der Philosophie bis zur
populären Musik, wobei bei solch universellen Fragestellungen
oft nicht ganz klar ist, ob dieselben Begriffe in Berlin und Accra,
Shanghai und New York allemal auch dasselbe bezeichnen. Interessanter
wird es, wo es um konkrete Probleme der Komposition und die unterschiedlichen
Voraussetzungen der verschiedenen musikalischen Kulturen geht. So
verfügen Teilnehmer aus Accra und Kairo über umfangreiche
Kenntnisse der europäischen Musikgeschichte seit mittelalterlicher
Zeit. Ein Nachholbedarf besteht dagegen auf dem Gebiet neuester
Tendenzen. Umgekehrt betonen sie die Vielfalt der traditionellen
Musikrichtungen ihres jeweiligen Landes. Chinesische Komponisten
interessieren sich ebenso sehr für Mikrotonalität und
Intonation wie ihre Kollegen in Berlin und New York.
Ganz konkret werden die Themen der Diskussion in der Kompositionsweise
dreier Teilnehmerinnen, die alle auch mit Performance-Elementen
arbeiten. Jean Y. Foo bezieht sich in einem Werk für Bambus,
Stimmen und Tanz auf ihre Abstammung aus Hainan, greift jedoch mit
einer modernen Tonsprache über den lokalen Kontext hinaus.
Katharina Rosenberger interessiert sich für das Verhältnis
von Aufführenden und Publikum und arbeitet somit just auf dem
Gebiet, wo sich afrikanische und europäische Gepflogenheiten
unterscheiden. Nahla Mattar aus Kairo wiederum verwandelt in ihrer
interaktiven Tanzperformance „Eye of the I’s“
mit einer amerikanischen und einer russischen Kollegin Kulturbegegnung
unmittelbar in musikalische Praxis.