Die amerikanischen Jazzstars waren nicht da. Die spannendsten
Varianten der improvisierten Musik finden eben zurzeit in Europa
statt. Das meint zumindest Festivalchef Peter Schulze, und das Publikum
schien ihm Recht zu geben und die Auftritte von Herbie Hancock,
George Benson, Wynton Marsalis, Keith Jarrett oder Dave Brubeck
nicht zu vermissen. Auch dass der deutsche Superstar Till Brönner
am selben Wochenende die Premiere seines “A Night In Berlin”-Abends
zelebrierte, schien der Attraktivität des Jazzfestes nicht
abträglich zu sein. An jedem Abend standen Besucher vor dem
Festspielhaus, mit der Frage auf den Lippen, ob man noch eine Karte
für sie hätte.
Dass die seit drei Jahren sich bewährende Neukonzeption des
Jazzfests sich auf ideale Weise mit dem nicht mehr so üppigen
Budget des Traditionsfestivals ergänzt, wurde nicht an die
große Glocke gehängt, liegt aber auf der Hand. Aber nicht
Geiz war geil in Berlin, sondern das Programm. In dem sich trotz
obiger Vorrede auch einige Amerikaner fanden. „Die Musiker
in Europa wer’n immer besser“, so eine Ansage von Joe
Zawinul in seinem unnachahmlichen austro-amerikanischen Slang. „Aber
die Rhythmusgruppe, die muss schon aus Amerika sein.“
Er war mit seinem Joe Zawinul Syndicate angereist und hatte seine
Musik für die WDR Big Band arrangiert. Die beiden Klangkörper
– das amerikanische Syndicate mit Victor Bailey, Nathaniel
Townsley und Alex Acuña und die westdeutsche Bläserabteilung
– blieben sich an Verve und Können nichts schuldig. Die
Zuhörer erlebten ein Powerplay, das einem den Atem verschlug.
Zawinul scheint mit seinen 73 Jahren vitaler und viriler denn je:
der Pablo Picasso des Jazz.
Einen ganz anderen Big-Band-Sound bot Maria Schneider mit ihrem
Ensemble. Amerikanisch, glatt, antiseptisch – so kam einem
ihre Musik nur in den ersten Augenblicken vor. Nach einigen Minuten
bereits zeigten Schneiders Kompositionen ihre berauschende Wirkung.
Es öffnete sich eine Welt voller Klangfarben und zarter Nuancen,
voller harmonischer Überraschungen und dramatischer Einfälle.
Was Ravel und Debussy für die ernste Musik des 20. Jahrhunderts
erfanden, das führt Schneider weiter in der Welt des Jazz.
Die Klangfarben von Klarinette und Flöte erweiterten den Big-
Band-Sound.
Die Soli waren nicht die üblichen virtuosen Parforce-Ritte,
sondern entstanden organisch aus dem Orchestertutti und gingen auf
musikalisch sinnvolle Weise auch wieder darin auf. Die Beiträge
der Solisten – darunter Ingrid Jensen (tp), Scott Robinson
(bs) oder Ben Monder (g) – waren individuelle Statements,
dabei aber immer wie „ein“-komponiert ins musikalische
Ganze. Schneiders Musik verleugnet nicht, dass sie ihre Kunst des
Arrangierens bei Meistern wie George Russell, Bob Brookmeyer und
vor allem Gil Evans lernte. Doch es ist ihr gelungen – basierend
auf Evans’ Big-Band-Sound – etwas ganz Eigenes zu schaffen:
Eine Jazzsymphonie wie sie amerikanischer nicht sein kann und dennoch
fürs europäisch-klassisch geschulte Ohr sofort zugänglich
ist. Joe Zawinul mit amerikanischer Rhythmusgruppe und der WDR Big
Band, Maria Schneider mit durchkomponiertem, an europäischer
Kunstmusik angelehntem Jazz – Fusionen wie diese zogen sich
wie ein roter Faden durchs Programm des Berliner Jazzfestes ’05.
Ein Beispiel dafür war der Klarinettist Hüsnü Senlendirici
und sein World Ensemble: Sie schufen ein Amalgam aus Roma-Idiom,
türkischen Traditionen und globalen Fusion-Sounds. Oder der
Saxophonist Enzo Favata, der seine Spielart eines „interkulturellen
Jazz“ innerhalb der italischen Traditionen begründete.
Zu seiner recht gewöhnlich agierenden Jazzcombo hatte er die
vier „Tenores di Bitti“ geladen. Deren Viergesang besaß
bemerkenswerte Intensität und Magie – die vier Herren,
die im Kreis um ein einzelnes Mikrofon standen, in das sie sangen,
stahlen der Jazzband die Show.
Interkulturelle Begegnungen können auch scheitern: das geplante
Perkussionsmeeting zwischen dem Holländer Han Bennink und dem
Brasilianer Hermeto Pascoal fand nicht statt. Ein cultural clash
der besonderen Art – Musiker sind eben auch nur Diven.
Anders dagegen beim wie immer unprätentiös auf hohem
künstlerischem Niveau agierenden Bill Frisell. Seine Beatles-Paraphrasen
erlaubten den Hörern eine Begegnung der besonderen Art, nämlich
mit ihrer eigenen Jugend. „Back to the Beatles“ könnte
man dazu sagen.
Wer begeisterte noch? Enrico Rava mit jungen Musikern im Quartett.
Unangestrengt, in bester ästhetischer Form präsentierten
die Italiener neuen Jazz. Die „belcanto-Partien“ übernahmen
Rava und der Posaunist Gianluca Petrella: Sie spielten sich die
Bälle so schlafwandlerisch zu, dass man glaubte, nur ein einziges,
im Tonumfang erweitertes Instrument zu hören.
Sichtlich gerührt war Pianist Uli Gumpert als ihm im Quasimodo
der Deutsche Jazzpreis (Albert Mangelsdorff-Jazzpreis) von Manfred
Schoof und Harald Banter überreicht wurde. Mit einer schnellen
Flucht ans Klavier entging er eventuellen sentimentalen Anwandlungen
und zeigte in einem fulminanten Konzert mit seinem derzeitigen Quartett,
warum er von der Jury für preiswürdig erachtet worden
war.
Während Gumpert in den 70er-Jahren mit einem Programm „Aus
teutschen Landen“ Beachtung gefunden hatte, pflegte damals
der amerikanische Bassist Charlie Haden mit seinem „Liberation
Music Orchestra“ revolutionäre Programmmusik. Zusammen
mit Carla Bley und jungen Musikern hat er nun zum dritten Mal eine
Band unter diesem Namen zusammengestellt und gab den Berlinern mit
dem Programm „Not In Our Name“ Gelegenheit, einen Blick
aufs „andere Amerika“ zu erhaschen. Fahnen wurden keine
verbrannt.