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nmz-archiv
nmz 2005/12 | Seite 19
54. Jahrgang | Dez./Jan.
Forum Musikpädagogik
Woher kommen Deutschlands künftige Orchestermusiker?
Das Berliner Musikgymnasium „Carl Philipp Emanuel Bach“
Von den vier Spezialschulen für Musik, die es in der DDR gab,
konnten drei, die in Berlin, Weimar und Dresden, gerettet werden.
Die Berliner Spezialschule, einst eine Abteilung der Hochschule
für Musik „Hanns Eisler“, wird heute als Musikgymnasium
„Carl Philipp Emanuel Bach“ weitergeführt. Der
Schulleiter Winfried Szameitat, ein ausgebildeter Trompeter, erläutert
die Rolle dieser Schule bei der Förderung des musikalischen
Nachwuchses.
Das
Haus hat Patina, das pädagogische Konzept ist unverbraucht.
Foto: Musikgymnasium „Carl Philipp Emanuel Bach“
nmz: Herr Szameitat, was ist das Besondere des
von Ihnen geleiteten Musikgymnasiums? Winfried Szameitat: Unsere Schule bietet eine vorberufliche
Ausbildung ausschließlich mit Hochschullehrkräften. In
Deutschland gibt es nur drei Gymnasien, die aus der Tradition der
ehemaligen DDR-Spezialschulen weiterhin diese enge Zusammenarbeit
mit den Hochschulen pflegen.
nmz: Wie viele Bewerbungen gibt es jährlich?
Welche Bedingungen müssen die Schüler erfüllen? Szameitat: Es gibt konstant etwa 60 bis 70 Bewerber,
von denen etwa die Hälfte aufgenommen wird. Das ist je nach
Instrument unterschiedlich. Besonders hoch sind die Standards in
den hohen Streichinstrumenten und auf dem Klavier. Bei den Bläsern,
wo der Entwicklungszeitraum anders gelagert ist, nehmen wir auch
Leute auf, bei denen wir eine allgemein musikalische Hochbegabung
feststellen. Wir gaben diesen Schülern noch Zeit zur Entwicklung.
Aber spätestens in der 9. oder 10. Klasse muss klar sein, ob
es auf ein Studium hinläuft oder nicht.
nmz: Wie ist das zahlenmäßige Verhältnis
der Instrumente? Szameitat: Grundsätzlich sind bei uns studierbar
alle die Instrumente, die auch an der Hochschule als Fächer
existieren. Die größte Abteilung, die Violinabteilung,
macht ungefähr ein Viertel aller Schüler aus. Sehr stark
sind alle Streichinstrumente und das Klavier, bei den Bläsern
die Klarinetten, zum Teil Flöten und Trompete, also die Melodieinstrumente.
Dies entspricht der Nachfrage an den Musikschulen. Zu den tieferen
Instrumenten kommen die Schüler meist nur durch besondere Hinweise.
Wenn es nicht reicht mit der Enge des Mundstücks, sagt man
dem Oboisten: Probier doch mal das Fagott. Oder dem Trompeter: Probier
doch mal die Posaune. Streicher haben auf der Bratsche mehr Berufschancen
als auf der Geige.
nmz: Nach welchen Kriterien wählen Sie Schüler
aus? Szameitat: Wir nehmen die Besten. Natürlich
freuen wir uns, wenn ein Fagottist kommt, weil wir im Hinterkopf
das Orchester haben. Aber wir forcieren nicht Fagotte, indem wir
andere benachteiligen. Mein Ziel ist die umfassende Musiker-Persönlichkeit,
die nicht nur technisch einwandfrei spielt, sondern auch musikalisch
gebildet ist. Dafür bietet unsere Schule ein gutes Angebot.
Neben dem instrumentalen Hauptfach kann man hier Musikgeschichte
betreiben, Formenlehre und Kammermusik. Immer wichtiger wird die
Darstellung als Musiker im Markt. Gerade der freiberufliche Musiker
muss vorbereitet werden auf seine Präsentationsmöglichkeiten
im Internet, auf die Moderation eines Konzertes, die Entdeckung
stilistischer Nischen oder Aufstellung eines Programms. Das spricht
für das Gymnasium. Denn der Musiker, der über etwas nachgedacht
hat, steht ganz anders auf der Bühne, mit einem anderen Erfahrungshorizont,
als der Musiker, der nur den technischen Hintergrund hat auf seinem
Instrument.
nmz: Bei den Absolventen der letzten Jahre gab
es ein Übergewicht der Mädchen. Wo bleiben die männlichen
Schüler? Szameitat: Auch in den Profi-Orchestern gibt es
immer mehr Frauen. Das liegt auch daran, dass das Musische aus einem
bestimmten Rollenverständnis mehr den Mädchen zugeschoben
wird. Allerdings sind diese gerade in der Pubertät wesentlich
stabiler in Fleiß und Diszipliniertheit. Auf Instrumenten
wie Geige und Klavier, die viel Ausdauer erfordern und Akkuratesse,
haben Mädchen im Alter zwischen 12 und 15 größere
Erfolge. Danach hebt sich das wieder auf. In Jugendorchestern finden
Sie heute bei den hohen Streichern fast nur noch Mädchen. Dies
spiegelt sich auch in den Profi-Orchestern wider, wenn auch nicht
in derselben Proportion.
nmz: Wie ist das Verhältnis zwischen Einzelunterricht
und dem schulischen Gruppenunterricht? Szameitat: Der Einzelunterricht ist der entscheidende
Unterricht und der Hauptfachlehrer die Respektsperson für den
Schüler. Wegen ihm kommt er an die Schule. Die Allgemeinbildung
ist für den Schüler dagegen etwas, was er mitnehmen muss.
Das bietet oft Schwierigkeiten im sozialen Miteinander im Klassenunterricht.
Das zusammenzubringen, ist unsere ständige Aufgabe.
nmz: An einem Musikgymnasium sind alle Schüler
an Musik interessiert. Entstehen dadurch auch Ensembles? Szameitat: Wir wollen eigentlich, dass die Ensembles
sich selbst finden. Das funktioniert nicht immer, aber oft. Zum
Beispiel tun fortgeschrittene Schüler sich zusammen, um Streichquartett
zu spielen. Sie treffen sich drie bis vier Mal und sprechen dann
einen Hauptfachlehrer an, der eine Probe übernimmt. Oft entwickeln
sich daraus mehr oder weniger haltbare Gruppen. Schule ist ja immer
ein fluktuierendes Geschäft.
nmz: Was trägt die Schule zu Erfahrungen
mit Neuer Musik bei? Szameitat: Wir haben einen Konsens mit der Hochschule,
dass in Tonsatz und Gehörbildung Neue Musik eine größere
Rolle spielt. Sie soll daneben im allgemein bildenden Unterricht
präsent sein und auch künstlerisch wirksam werden. Dies
geschah zuletzt bei zwei sehr schönen Projekten im Education-Programm
der Berliner Philharmoniker, wo wir kreativ kompositorisch im Kollektiv
zwei Aufführungen erstellt haben.
nmz: Einen wichtigen Teil der Belastung der Schüler
macht das Üben aus. Wie funktioniert das? Szameitat: Jedes Instrument braucht ein anderes
Übe-Management. Der Klavierspieler fühlt sich erst in
der dritten Stunde wohl, während der Hornist über den
Tag verteilt viermal die halbe Stunde übt. Das heißt,
wir haben es hier letztlich mit 165 Karrieren zu tun, die zeitlich
einzeln organisiert werden müssen. Die Schüler müssen
lernen, sich zu organisieren. Das ist ein ganz wichtiges Erziehungsziel
der Schule, so dass ich behaupte, Schüler, die das Abitur hier
erreichen mit dieser Belastung, haben gelernt, ihr Leben effektiv
zu organisieren.
nmz: Wie viele der Absolventen gehen tatsächlich
ins Musikstudium? Szameitat: Im Schnitt an die 90 Prozent. Die Abiturienten
sind auf dem Niveau, das dann auch zu packen, denn die Prüfungen
orientieren sich immer an der Studierfähigkeit. Es gehen aber
einige Schüler schon nach der Mittleren Reife ab. Das sind
zum Teil hochkarätige Leute, die sich entschieden haben, gleich
ins Musikstudium zu gehen.