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nmz-archiv
nmz 2005/12 | Seite 36
54. Jahrgang | Dez./Jan.
Jeunesses Musicales Deutschland
Komponieren „von drinnen nach draußen“
Erster JMD-Kinder-Kompositionsworkshop nutzt eCommunity
Wer war noch nie im Internet? Schweigen. Murmeln. Erstaunte Blicke.
Dirk Hangstein, der das virtuelle Klassenzimmer gestaltet hat, das
die 17 Kids aus Weikersheim und Wittenberg nutzen wollen, hatte
fast schon damit gerechnet. Natürlich ist den 9- bis 13-jährigen
Teilnehmern des Kompositionskurses für Kinder das Netz vertraut.
Wie könnte man auch anderes annehmen?
Auf dieser Basis ist gut umsetzbar, was früher an kaum lösbaren
praktischen Problemen gescheitert wäre: Das Netz macht möglich,
auch im weit gespannten Drei-W-Dreieck aus dem niedersächsischen
Winsen, wo die beiden Dozenten leben, und den Schülerstädten
Weikersheim und Wittenberg gemeinsam zu lernen. Im passwortgeschützten
virtuellen Workshopraum können Dozenten und Schüler sich
gegenseitig mit Ideen, Hausaufgaben und Korrekturen versorgen.
Die eCommunity der 17 Kompositionsschüler betreuen Matthias
Kaul und Astrid Schmeling als Dozenten. Die beiden – er vielfach
ausgezeichneter Percussionist und Komponist, musikalischer Weltenbummler
und Grenzgänger, sie Flötistin, Dozentin am Hamburger
Konservatorium und der Landesmusikakademie Berlin – haben
1983 das Ensemble „L’art pour l’art“ und
1999 in Winsen an der Luhr eine Kinderkomponistenklasse gegründet
und wurden dafür mit dem „Zukunftspreis Jugendkultur“
ausgezeichnet. Auch zur Expo 2000 wurden sie geholt. Und jetzt zur
in Weikersheim entwickelten „eCommunity“ der JMD.
Problemlos gestaltete sich der Einstieg in die Community schon
beim Startworkshop, zu dem die Jeunesses Musicales Deutschland die
musikinteressierten Kinder Ende September nach Weikersheim eingeladen
hatte. Berührungsängste gegenüber der hohen Kunst
der Komposition? Keine. Schließlich wollen sie alle wissen,
wie man etwas „Von drinnen nach draußen“ bringen
kann – wie man sich ausdrücken kann in der Sprache der
Musik. Das Wort „Neue Musik“ taucht dabei gar nicht
auf. Den Kindern aber wäre das vermutlich eh egal: Musik ist
Musik. Unterscheidungen zwischen „E“ und „U“,
traditionell oder innovativ, klassisch oder zeitgenössisch:
für Kinder ziemlich schnurz.
In zwei Gruppen – etwas jünger, etwas älter –
haben die beiden Dozenten ihre Schützlinge im Gärtnerhaus
eingeteilt. Irgendwie musikalisch sind sie alle, spielen ein oder
mehrere Instrumente: Flöte, Gitarre, Klavier, Schlagzeug, Violine...
Eine gute Basis. Aber noch keineswegs eine, die freies Komponieren
ermöglicht. Viel zu dicht an der Notenskala denken die Kinder
die Musik, finden die Dozenten. Und brechen erst mal aus dem so
strikt vorformulierten Muster von Tonleiter und Takt aus.
Was für Klänge gibt es? Und welche können wir erzeugen
– und erzeugen lassen? Klar, die der Instrumente. Die lassen
sich mit der Stimme imitieren. Aber auch: Wind. Getrampel. Den Klang,
der aus dem Papierkorb kommt, wenn man auf ihm trommelt, mit den
Trommelschlägeln in ihm herumrührt, ihn über den
Boden zieht, ihn kollern lässt. Vielfalt pur. Das ganze geht
mit Wiederholung, höher, tiefer. Es reichen Zettel, auf denen
etwa „Wind“ steht oder „Flöte“, um
schon das erste Stehgreifstück dirigierend zu komponieren.
Oder umgekehrt. Jedes Kind ein Klang, schon hat man ein Orchester.
Allein die Umgruppierung der Zettel schafft neue Klangeindrücke.
Und dann sind da die Instrumente: nur nicht verstimmen, haben sie
gelernt, und nur nicht mehr daran rühren, als nötig ist,
um säuberlich vom Blatt zu spielen. O.K., sagt Astrid Schmeling
– aber es steckt doch viel mehr drin im Flügel. Man lasse
nur mal die Finger über die Saiten gleiten. Oder lege etwas
drauf auf die Saiten: ein völlig neuer Klang. Auch bei Geige
und Gitarre sind die Wirbel beweglich, lassen sich Klänge jenseits
von Akkordgriff und althergebrachten Techniken erzeugen. Die erste
Komponierwerkstatt gerät zur abenteuerlichen Erforschung von
Raum und Ding und Ton, zur völlig neuen Hörerfahrung.
„Von drinnen nach draußen“ heißt das Projekt
– und es geht darum, den Schülern Wege zu weisen, wie
sie sich zu dem, was sie umgibt, was sie erleben, was sie bewegt,
musikalisch äußern können. Das führt fast automatisch
zum Instrument jenseits des Instruments. Kaul etwa hat auch schon
mal auf Fahrradspeichen gefiedelt, Wasserkessel mittels elektrischer
Zahnbürste zum Singen gebracht, und Schmeling steht ihm in
Experimentierfreude um nichts nach. Geräusche zu Musik werden
zu lassen, sie irgendwann gezielt und spiel-, also wiederholbar
zu machen: Das dürfte ein höchst spannender Prozess für
alle Beteiligten werden. Dabei ist „die Notierung das Allerletzte“,
sagt die Dozentin. „Erst mal verbal, beschreibend“,
schätzt sie, werden sich Schüler und Dozenten im virtuellen
Klassenzimmer austauschen. Natürlich wird die Notierung irgendwann
erforderlich – schließlich sind als Höhepunkt des
Halbjahresprojekts Abschlusskonzerte in Wittenberg (7. April 2006)
und Weikersheim (9. April) vorgesehen, bei denen die entstandenen
Kompositionen aufgeführt werden.
100 Euro Teilnehmerbeitrag sind fällig – darin enthalten
sind die beiden Workshops in Weikersheim und Wittenberg, die dafür
erforderlichen Fahrtkosten, die Internetbetreuung und der wöchentliche
Unterricht, für den in Weikersheim Bezirkskantorin Eva-Magdalena
Ammer, in Wittenberg der Musiklehrer Klaus Vogelsang zuständig
sind. Das dicke Lern- und Servicepaket konnte die JMD nur durch
die ELR-Fördermittel des Landes Baden-Württemberg so günstig
für die Teilnehmer anbieten. Das Dach für das Kinder-Kompositionsprojekt
„Von drinnen nach draußen“ heißt „Musikalisches
Bildungsnetzwerk eCommunity Musik und Darstellende Kunst“.
Das „eCommunity“-Projekt gehört dabei für
die JMD ins Feld der innovativen kulturpolitischen Impulse, die
die deutsche Sektion der weltweiten Kulturorganisation der musikalischen
Jugend geben will – unter anderem mit der „Initiative
Konzerte für Kinder“, dem derzeit auf Eis liegenden Projekt
„Weikersheimer Stadtkomponist“ und den Orchesterpatenschaften
zwischen Berufs- und Jugendorchestern.
Auch wenn der ganze Überbau die 17 eCommunity-Kids schlicht
kalt lässt: den Kurs an sich, den finden sie einfach klasse.
Denn schon beim Dirigieren nach Klangzetteln erleben sie Musik,
noch dazu selbst erfundene und selbst gemachte, als irre spannendes
Abenteuer.