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nmz-archiv
nmz 2005/12 | Seite 15
54. Jahrgang | Dez./Jan.
Kulturpolitik
Deutschland, einig Musikland?
Anmerkungen und Fragen zur Tagung des Deutschen Musikrates in
Berlin · Von Friederike Haupt
„In der Musiknation Deutschland ist der Zugang für
alle Menschen zu musikalischer Bildung als wichtigem Kulturgut längst
nicht mehr selbstverständlich“. Diese Wahrheit und noch
viel mehr steht im „1. Berliner Appell“ des Deutschen
Musikrates von 2003. Vom „Menschenrecht auf kulturelle Identität“
und dem Grundrecht auf musikalische Bildung ist die Rede. Sieben
Thesen zur „Musik in der Schule“ unterstützen diese
Forderungen.
In
Berlin und Nordrhein-Westfalen ist die türkische Baglama
bereits Wettbewerbsinstrument bei „Jugend musiziert“.
Foto: Deutscher Musikrat
Die Realität sieht dessen ungeachtet bitter aus. „Was,
Musik?“ stöhnt die Lehrerin einer vierten Klasse, „das
haben die doch an den weiterführenden Schulen gar nicht mehr.
Eine Stunde höchstens, oder es fällt ganz aus. Und Kunst
wird gestrichen.“ Was macht es da schon, wenn die Kinder ihrer
Klasse nicht mehr singen können? Rechnen können sie ja.
Hilft uns tatsächlich Mozart, um mit dem Leistungsdruck an
deutschen Schulen klarzukommen? Oder Mambo, um sich in einer immer
unübersichtlicheren Welt zu sozialisieren? Helfen Nischenkultur
und Heiapopeiamultikulti, um endlich wieder „gute“ Deutsche
zu sein? Oder geht es tatsächlich um mehr – um ein „artgerechtes“
Überleben aller Menschen in unserer Gesellschaft?
Der „2. Berliner Appell“ des Deutschen Musikrates,
der in diesen Tagen veröffentlicht wird, muss daher konkreter
werden. Vor der mentalen Kulisse brennender Straßen in Paris
drängt sich die Frage nach interkulturellem Austausch, nach
gegenseitiger Wahrnehmung und Wertschätzung unterschiedlicher
sozialer Identitäten zwingend auf. „Parallelgesellschaften
vermeiden“ ist denn auch eines der Stichworte zu Beginn der
Tagung „Musikland Deutschland. Wie viel kulturellen Dialog
wollen wir?“
Ein vielgelobter Denkzettel des Musikwissenschaftlers Hermann
J. Kaiser liegt den Tagungsunterlagen bei. Er stellt fest „…dass
dieses als homogen unterstellte ‚Wir‘ ein Patchwork-Wir
ist“. Dank Teil- und Subkulturen. So stellen sich dann auch
die tagenden Podiumsgäste zu Beginn ganz unterschiedliche Leit-
und Sub-Kulturen vor. Michel Friedman, der die bürgerlichen
Werte beschwört, sitzt auf dem Podium neben Michael Schindhelm,
der hochsubventioniertes Theater machen kann und daher keinerlei
Bodenhaftung benötigt. Martin Maria Krüger formuliert
für den Deutschen Musikrat, sanft aber klar, seine Zielsetzung
neben Cem Özdemir, der wieder und wieder an die deutsche suboptimale
Wirklichkeit erinnert. Dringlichkeit ist gegeben, die Tagung tagt
im richtigen Moment und startet in verschiedene Gesprächsrunden,
die, am Ende zum „2. Berliner Appell“ zusammengefasst,
politische Tragkraft entwickeln sollen.
Gelungen, ein musikalischer Auftakt mit chinesischer Mundorgel
Sheng und Saxophon. Da zelebrieren zwei Musiker Dialog ohne Worte
schon mal vorab auf der Bühne und damit ist klar: Musik kann
das! Musiker können Verständigung schaffen, wo Worte noch
lange fehlen. Musik könnte als kommunikative Kernkompetenz
im Bildungskanon dienen, sie kann Gräben überspringen,
kann Gemeinsamkeit schaffen zwischen den Kulturen, kann Andersartiges,
kann Neues formulieren, kann auf Augenhöhe gegenseitig Wert
schätzen, quod erat demonstrandum.
Hans Bäßler, Vize-Präsident des Deutschen Musikrates,
wendet sich der aktuell wieder aufgeflammten Debatte um die deutsche
Leitkultur zu: Er erinnert an den siebenseitigen Werke-Katalog der
Konrad-Adenauer-Stiftung, mit dessen Hilfe umfassende musikalische
Allgemeinbildung vermittelt werden soll. Dem gegenüber stellt
Hans Bäßler die Europäische Tradition der Aufklärung
mit Demokratie, Toleranz und Rationalismus und strikter Trennung
von Staat und Religion. Er fordert Kulturpluralismus und Wertekonsens
statt Multikulturalismus ohne Wertekonsens. Daraus formuliert sich
zwingend die Frage, wie entwickelt sich eigentlich kulturelle Identitätsbildung?
„Die individuelle Identität ist ein subjektiver Konstruktionsprozess,
eigene subjektive Erfahrungen können gleiche Schnittmengen
mit anderen bilden.“ Bäßler gesteht der Musik stärkere
Identitätsbildung zu als anderen Künsten. Sie wird sich
auflehnen gegen Gleichmacherei, immer und über-all. Ihre Macht
ist demonstrativ bestätigt worden, gerade durch ihr Verbot.
Durch die moralisch-musikalische Enteignung während der Nazi-Herrschaft
oder durch die vollkommene Entkernung einer Gesellschaft vom musikalischen
Tun, wie jüngst in Afghanistan unter der Herrschaft der fundamentalistischen
Taliban.
Eine „Leitmusik“, etwa bürgerlicher Art, die
von Teilen der Gesellschaft abgelehnt wird, kann niemand wollen.
Durchdringung, Hinterfragen, Neudiskutieren der vorhandenen Musikkulturen
schon eher.
Christian Höppner schrieb jüngst in der nmz: „Mulitkulti
gibt es nicht. Aber kulturelle Vielfalt.“ Und sagt im Interview:
„Deutschland ist ja immer stärker vernetzt mit den Ländern
um sich herum, wir haben eine zunehmende Migration, wir haben einen
zunehmenden Reichtum der Kulturen in unsrem Land. Die Dinge, die
den Rahmen bestimmen, müssen politisch bewegt werden. Und sie
werden zunehmend auf der europäischen Bühne für uns
gestrickt, diese Rahmenbedingungen und dieses Bewusstsein hier zu
schaffen, dass wir hier andere Rahmenbedingungen brauchen, um Begegnungen
zu ermöglichen in Deutschland, das ist das Ziel dieser Tagung.“
Gelungene Modelle des interkulturellen Dialogs im Musikbereich
aber sind, neben einem interreligiösen Chorprojekt in Marktoberdorf,
der Wettbewerb „Jugend musiziert“, der als einziges
vor Ort wirksames Projekt vorgestellt wird und ein zukünftiger
Wettbewerb.
„‚Jugend musiziert‘ fragt nicht, welche Jugend
und welche Musik“, sagt Christian Höppner und stellt
die türkische Baglama, eine Langhalslaute aus der Familie der
Saz vor. Vor drei Jahren wurde sie als Wettbewerbsinstrument bei
„Jugend musiziert“ eingeführt. Hier findet musikalischer
Austausch vor Ort statt. Ein weiterer Wettbewerb wird angekündigt.
Ein Weltmusikwettbewerb, der deutschlandweit ab 2006 starten soll.
Wieder U-Bahn, wieder Berlin. Zuhause begrüßt mich meine
dunkelgelockte äthiopische Nichte mit einem breiten Lächeln.
Das kann ich von ihr lernen.
Bitte beachten Sie auch unsere
Beilage „Dokumentation der Fachtagung“!