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nmz-archiv
nmz 2005/12 | Seite 7
54. Jahrgang | Dez./Jan.
Magazin
Musikgeschichte, die sich der Gegenwart stellt
Der Welt abhanden gekommen: der Musikwissenschaftler Guido Adler
(1855–1941)
Wien, XIX., Lannerstrasse 9 – irgendwann um das Jahr 1910
fotografiert Hubert Joachim Adler seinen Vater. Umgeben von seinen
Büchern sehen wir Guido Adler in einer für ihn überaus
charakteristischen Körperhaltung. Ein Gelehrter, dem das Moment
der Versenkung auf die Stirn geschrieben ist. Guido Adler in seiner
Bibliothek, gebeugt über Skripte, Korrespondenz, Noten. Der
Wissenschaftsernst ins Bild gesetzt. So kannten, so schätzen
ihn Schüler, Kollegen, nicht zuletzt die Familie, Ehefrau Betty
Berger, eine Wienerin, die er 1887 „nach bürgerlichen
Gesetzen und israelitischen Gebräuchen” heiratet, dazu
die beiden Kinder Hubert und Melanie.
Adler
in seiner Bibliothek. Foto:
University of Georgia, Adler Papers
Erklären und Bestimmen von Werken der Tonkunst ist für
den Gründer des Musikhistorischen Instituts an der Wiener Universität,
für den Ordinarius der Musikwissenschaft in entscheidender
Umbruchszeit zwischen 1898 und 1927 der ostinate Bass einer breit
angelegten Lehr-, Forschungs-, Beratungs- und Publikationstätigkeit.
Eine Tätigkeit, die den elfenbeinernen Universitätsturm
als Ort des Sich-Versenkens schätzt, ohne sich freilich in
ihm zu verbunkern. Vielmehr ist es Weltoffenheit, die Guido Adler
in einem sehr prinzipiellen Sinn als Möglichkeitsbedingung
geistiger Existenz gilt. „Die größte Gefahr“,
schreibt er Mitte der 20er-Jahre in einer unveröffentlichten
Skizze zur Lage der modernen Tonkunst, „liegt nicht im Experimentieren,
sondern in den Schlagworten, die geprägt werden.“ Es
ist das Ethos der Selbstaufklärung Kants, das Adler hier vertritt.
Die Freiheit des Entwurfs, will er sagen, darf man sich von niemandem
streitig machen lassen – auch nicht von sich selbst, von der
eigenen Furcht vor dem Neuen, dem Sich-Gewöhnen an die Gewohnheit,
an den Trott. In diesem Bewusstsein betritt Guido Adler seine Bibliothek
– nicht, weil er sich dort vergraben will, vielmehr, um auszugraben,
um es für die Gegenwart fruchtbar werden zu lassen.
Beispiel Moderne
Anfang der 20er-Jahre projektiert Adler sein großes Handbuch
der Musikgeschichte, das 1924 in erster, 1930 in zweiter, erweiterter
Auflage erscheinen wird. Der Löwenanteil, in erster Auflage
neunhundert von eintausend Seiten, ist darin dem „großen
Stoff der musikalischen Entwicklung des Abendlandes“ vorbehalten,
verhandelt und ausgebreitet in drei „Stilperioden“,
angefangen bei den orientalischen Kulturvölkern über die
Gregorianik bis zur Wiener Tanzmusik und Operette.
Hätte er sich an dieser Stelle zum Abbruch seiner Monumentalgeschichte
entschlossen – niemand hätte ihm einen Vorwurf gemacht.
Denn „nur was dem Interesse der Gegenwart entrückt ist“,
ist auch wissenschaftsfähig, dekretiert etwa Philipp Spitta,
Adlers Mitherausgeber und Gegenspieler im Projekt „Vierteljahreszeitschrift
für Musikwissenschaft“. Der Stoff, aus dem die Wissenschaft
geschnitzt ist, muss, so Spitta, „dem Forscher stille halten“.
Mit anderen Worten: Untersuchungen nur an totem Gewebe. Was aber,
fragt sich Adler, machen wir dann mit der Musik der Gegenwart? Bleibt
die Moderne, bleibt, was zwischen Wagner und Schönberg geschah
und geschieht, außen vor?
„Objektivität und Gegenwart passen nicht unter einen
Hut!“ hätte Spitta dem Kollegen zugerufen. „Ich
weiß!“ hätte dieser geantwortet. Es muss trotzdem
versucht werden, selbst wenn es heute, Anfang der 20er-Jahre, eine
vollkommen offene Frage ist, was die „Moderne seit 1880“
darstellt. Sich der Gegenwart zu stellen, ist Pflicht, auch wenn
wir dafür den „streng historischen Boden“ verlassen
müssen, damit sich, notgedrungen, „Geschichtsschreibung
und Tagesschriftstellerei“ begegnen können. Ein Wissenschafts-Kompromiss.
Für einen Wissenschaftsautor wie Guido Adler zweifellos eine
große Überwindung. Wie schon für den Hauptteil seines
Handbuchs, requiriert er auch für dessen Schlusskapitel „Moderne“
ein Team aus „Vertretern verschiedener Nationen“. Nicht
weniger als vierzehn Autoren sollen ihm helfen, ein Bild der Gegenwart,
eben jener „Moderne seit 1880“ zu entwerfen, indem sie
geschlossene Darstellungen schreiben der Musikentwicklungen in den
süd-, mittel- und osteuropäischen Ländern sowie in
den Vereinigten Staaten von Amerika. Auch die 1930 notwendig gewordene
zweite Auflage transportiert nicht nur dieses „Moderne“-Kapitel
weiter mit, sondern präsentiert bemerkenswerte Ergänzungen:
Unterkapitel „Belgien, Deutsche und Romanische Schweiz“,
erneut den Fachartikel „Musikwissenschaft“ (Wilhelm
Fischer), dazu drei weitere Grundsatzbeiträge: Eine komprimierte
Interpretationsgeschichte ernster Musik (Paul Nettl), einen Schnelldurchgang
„Musiktheorie“ vom Ausgang des 15. Jahrhunderts bis
zu Schönberg und zur Zwölftontechnik, die hier Joseph
Mathias Hauer zugeschrieben wird (Johannes Wolf) und schließlich
sogar einen Aufsatz zur viel geschmähten „Musikkritik“.
(Hermann Springer)
Rezeption als Kastration
Keiner dieser Beiträge indes hat die Aufnahme in das 1975
erschienene dtv-Reprint geschafft, das für Adlers Nachkriegsrezeption
praktisch die einzige Quelle darstellte. Mit dem etwas altklugen
Argument fehlender Gültigkeit und Dauer – was Adler selbst
ja durchaus nicht an der Aufnahme der Moderne in seine Musikgeschichte
gehindert hat – wird die neuralgische Schnittstelle an der
Wende des 19. zum 20. Jahrhundert schlichtweg gestrichen, was für
unser Bild von Adlers Musikgeschichts-Verständnis insofern
verheerend gewirkt hat, als das Gegenwarts- und Krisenbewusstsein,
die Modernität des Herausgebers, dank einer verlegerischen
Kastration, mit einem Mal wie vom Erdboden verschluckt erscheint.
Die Taschenbuchversion von Adlers Handbuch der Musikgeschichte
spiegelt nun exakt wider, was man immer schon vom Historismus zu
wissen glaubte: Geschichte ist das, was vorbei ist. Als ein Geschehenes,
ein nicht mehr Wirksames, hat sie nur noch einen einzigen Ort –
den zwischen zwei Buchdeckeln, womit die Wissenschafts-Utopie, die
Adler noch bei seinen entferntesten Studien umgetrieben hat, ihrerseits
ausgetrieben ist. Und doch ist solches Zurechtstutzen nicht der
Grund, weshalb Guido Adler dem heutigen Bewusstsein fern gerückt
ist.
Paradigmenwechsel
Zu tun hat dies auch mit Adlers Wissenschaftsvermächtnis,
das eng mit seiner Stiltheorie verbunden ist, die sich am Studium
der klassischen und der alten Musik ausbildet. Etwa an dem der „Trienter
Codices“ – 1.500 geistlichen und weltlichen Kompositionen
der Renaissance –, die auf seinen Vorschlag von Staats wegen
angekauft werden und deren Edition ihn und seine Schüler auf
Jahre hinaus beschäftigen und wie vieles andere in die „Denkmäler
der Tonkunst in Österreich“ eingehen, die Adler 1893,
gemeinsam mit Brahms und Hanslick aus der Taufe hebt.
1911 schließlich erscheint das Buch, das Adler selber sicherlich
als sein wichtigstes bezeichnet hätte: „Der Stil in der
Musik“, unverändert publiziert in zweiter Auflage 1929.
Mehr als ein Gelegenheitswerk, vielmehr ein Programm, glaubt Adler
doch, aus der Kompositionsgeschichte „Stilprinzipien“,
„Stilarten“ und damit notwendigerweise „Stilkritik“
ableiten zu können, womit er den Kontext einer normativen Ästhetik
etabliert, die mit dem Nachkriegs-Paradigmenwechsel zur Werkanalyse
außer Kurs gekommen ist.
Lange Schatten
Und doch erklären auch zwei problematische Kapitel Geist-
und Rezeptionsgeschichte letztlich nicht, weshalb Guido Adler unserem
historischen Gedächtnis abhanden gekommen ist. Wirksam wird
vielmehr auch in seinem Fall die nur zu gut bekannte Geschichte
politischer Ausgrenzung, die in „Hitlers Wien“ des ausgehenden
19. Jahrhunderts beginnt, im NS ihren blutigen Höhepunkt hat
und als Nachkriegsverstocktheit, als fatale Mischung aus Schuldgefühl,
Scham und Ressentiment langen Schatten wirft – bis in die
Gegenwart hinein, was ein vor kurzem in Wien ausgetragener Rechtsstreit
um ein wiederaufgetauchtes Mahler-Autograph noch einmal deutlich
machte.
Gegenstand: Die Partitur des Orchesterliedes „Ich bin der
Welt abhanden gekommen“, die Gustav Mahler 1905 Guido Adler
zu dessen 50. Geburtstag zum Geschenk gemacht hatte und die im Frühjahr
2000 völlig überraschend in der Wiener Sotheby’s-Vertretung
zur Versteigerung angeboten wurde.
Im darauffolgenden Rechtsstreit kommt es zum Aufeinandertreffen
eines Nachfahren der Opfer- und der Tätergeneration. Auf der
einen Seite der Erbe jenes Wiener Rechtsanwalts Heiserer, der 1941
kurzzeitig Adlers Tochter Melanie vertreten hat. Auf der anderen
der in den Vereinigten Staaten lebende Enkel Guido Adlers, Tom Adler.
Dieser bringt ein Argument ins Spiel, dem sich letztlich auch das
österreichische Bundesdenkmalamt anschließt. Das Mahler-Manuskript,
so Tom Adler, war Teil der Bibliothek seines Vaters, die nach seinem
Tod, gegen den Willen der 1942 ermorde-ten Tochter Melanie, erst
arisiert, schließlich unter Wiener Kulturinstitutionen aufgeteilt
wurde. Insofern ist es ebenso gestohlenes, unterschlagenes Kulturgut
wie Bibliothek und Nachlass seines Großvaters, den Hubert
Joachim Adler, der Vater Tom Adlers, unmittelbar nach dem Krieg
auf Grundlage eines ersten Rückstellungsgesetzes einklagt,
zugesprochen bekommt und daraufhin an die University of Georgia
gibt.
Dass der Enkel Guido Adlers darin Recht bekommt, vermag freilich
nicht über die Verstocktheit eines Nachfahren der Tätergeneration
hinwegzutäuschen, der die Erinnerung an solche historischen
Prozesse als Zumutung empfindet und in einer Mahler-Partitur, die
er im Tresor seines Vaters „findet“, einzig ein Spekulationsobjekt
erkennen kann. Kunst ist überflüssig, es sei denn, sie
bringt Geld.
Das Ende führt zurück an den Anfang: Guido Adler in seiner
Bibliothek. „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“.
Das Vergangene ist so lange nicht vergangen als uns noch etwas an
ihm beschäftigt, etwas, das uns nicht zur Ruhe kommen lässt,
das uns unter Umständen mit dem Gewesensein über Kreuz
liegen lässt. Es treibt um. Es ist unausgestanden. Wie am Schicksal
dieses Gelehrten jüdischer Herkunft, der sein Leben darauf
gegründet hat, dass das josephinische Toleranzversprechen halten
möge und in dieser Hoffnung letztlich gescheitert ist. Guido
Adlers Geburtstag, der sich am 1. November zum 150. Mal jährte,
könnte daran erinnern.