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nmz-archiv
nmz 2005/12 | Seite 3
54. Jahrgang | Dez./Jan.
Magazin
Der Mensch hinter der Stimme
Renée Flemings Autobiografie enthält mehr als pure
Lebens-Fakten
Renée
Fleming: Die Biografie meiner Stimme, Henschel Verlag,
Berlin 2005, 272 S., € 22,90, ISBN 3-89487-515-1
Was tun? Jazz oder Oper? Auf einmal öffneten sich zwei Türen,
durch die Renée Fleming hätte gehen können. Damals,
zum Ende ihres Studiums. Der Jazz lockte sie. Er bot die Chance
zum Experimentieren. Zur Improvisation. Zum Sich-Verlieren in abstruse
Tonhöhen. „Tief im Innern wusste ich, dass ich zu jung
und zu ängstlich war, um nach New York zu gehen, was für
eine Karriere im Jazz nötig gewesen wäre. […] Jazz
ist die Musik des freien Willens, und ich zog es immer noch vor,
mich einzufügen und unterzuordnen.“ Also blieb Fleming
der klassischen Repertoire-Schiene treu.
Autobiografien von Musikern gibt es viele. Vor allem Sänger
haben ein gesteigertes Mitteilungsbedürfnis. Doch was haben
Sie zu sagen? „Meist fand ich nichts weiter als unterhaltsame
Anekdoten aus dem Leben von Prominenten“ – so erinnert
sich Renée Fleming an ihre eigene Jugend- und Studienzeit,
als sie in den Büchern der damaligen Bühnenstars nach
Hilfestellungen und Tipps suchte. Doch das Promi-Geplausche war
ihr zu wenig. Deswegen hatte sie sich damals schon vorgenommen,
ihre eigene Autobiografie nicht allein mit Jahreszahlen, Fakten
und Gerüchten zu füttern, sondern nicht zuletzt mit praktischen
Hinweisen an die junge Generation. „The Inner Voice. The Making
of a Singer“ – so lautete die im vergangenen Jahr erschienene
englischsprachige Originalausgabe, die Isabell Lorenz nun ins Deutsche
übertragen hat.
Flemings Buch will nicht das Rad der Gesangspädagogik neu
erfinden. Sie will es auch nicht in die Gegenrichtung drehen. Sie
möchte, ohne mit erhobenem Zeigefinger zu sprechen, ihre Erfahrungen
mitteilen; berichten, mit welchen Entscheidungen sie gut in ihrer
Karriere gefahren ist und mit welchen nicht. „Will ich meine
Stimme schützen, heißt das nicht, dass ich mir anspruchslose
Rollen aussuche, sondern Rollen, die stimmlich genau auf mich zugeschnitten
sind. Oft ist das, was für mich richtig ist, nahezu unmöglich
für jemand anderen, und umgekehrt genauso.“ Das klingt
zunächst einmal banal. Doch schaut man sich im weiten Sängerrund
um, wie viele – vor allem junge – Kandidaten am Anfang
ihrer Laufbahn singen, was die Stimmbänder hergeben und wie
leicht sie sich mit ihnen unzuträglichen Rollen knebeln lassen,
dann gewinnen Flemings dezente Mahnungen durchaus an Gewicht. Am
Beispiel der Strauss’schen „Daphne“ wird sie konkret:
„Dies ist ein absoluter Schlüsselaspekt bei der Entscheidung,
ob eine Rolle geeignet ist: ein angemessener Tonumfang, und nicht
die Frage, ob die einzelnen Töne zu hoch oder zu niedrig sind.“
Renée Fleming betont, dass sie gerade in jungen Jahren die
hochliegenden Partien nicht angenommen habe, obwohl „die Stimme
mit zunehmendem Alter dazu neigt, tiefer und dunkler zu werden.“
Im Gegenteil: „Denken Sie nur an den Stimmteppich, in dem
die höheren Farben in das Tonmaterial eingewebt und die tieferen
Farben wieder aufgelöst werden, solange der höhere Stimmumfang
beibehalten wird.“ Fazit: Schaut aufs Ganze, auf die Entwicklung
des Körpers, auf die Langfristigkeit der stimmlichen Potenz.
Natürlich kommt auch Fleming nicht umhin, das Eine oder Andere
aus dem Nähkästchen preiszugeben. Auch ihre kleinen Exkurse,
etwa über Diäten oder die „Was-ziehe-ich-heute-Abend-an“-Frage
zeigen, dass wir es nicht mit einem Ratgeber im klassischen Sinne
zu tun haben. In ihr Privatleben gewährt sie so weit Einblicke,
als sich daraus allgemeine Schlüsse für jemanden ableiten
lassen, der Kinder und Karriere miteinander in Einklang zu bringen
versucht. Auch ist sie sehr offen in ihrer Skepsis, was den Klassik-Markt
betrifft. Sie zweifelt den geistigen Nährwert der Trend gewordenen
Crossover-Projekte offen an, sie versucht jene Agenten und Manager
zur Besinnung zu mahnen, die meinen, Klassik und Kassemachen müssten
unweigerlich identisch sein.
Die Autobiografie hebt sich erfreulich klar von vergleichbar angelegten
Büchern ab. Sie öffnet nicht die Tür zur Klatsch-
und Tratschküche, sondern zum Umgang mit der Stimme und zu
dem Menschen hinter dieser Stimme. Daraus kann jeder Leser seinen
Gewinn ziehen, egal ob Sänger oder nicht.