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nmz-archiv
nmz 2005/12 | Seite 9
54. Jahrgang | Dez./Jan.
Magazin
Keine Sehnsucht nach dem „Vierten Reich“
Erst im amerikanischen Exil war Alfred Einstein als Forscher
frei. Zum 125. Geburtstag des Musikwissenschaftlers
Für den Juden Alfred Einstein (1880–1952) begann die
berufliche Diskriminierung bereits dreißig Jahre vor dem Dritten
Reich. Sein Doktorvater Adolf Sandberger verweigerte ihm 1903 die
Habilitation auf Grund antisemitischer Ressentiments – zumindest
war Einstein davon lebenslang überzeugt. Da die Universitäten
ihre Türen vor ihm verschlossen hielten, machte er sich in
seiner Freizeit als Privatgelehrter einen Namen, neben seinen „Brotberufen“
als Herausgeber, Lektor und Musikkritiker. Im Jahr 1933, mit dem
Verlust des Herausgeberpostens bei der „Zeitschrift für
Musikwissenschaft“ und der Redaktionsstelle beim „Berliner
Tageblatt“, das mit Einstein den wohl einflussreichsten deutschsprachigen
Musikkritiker der Zeit aufgab, kehrte er Deutschland den Rücken.
Nach Stationen in England, Italien und der Schweiz zog es ihn in
die USA, denn Einstein fühlte sich in keinem europäischen
Land mehr sicher. Am 30. Dezember jährt sich sein 125. Geburtstag
und noch immer ist Alfred Einstein in der Musikwissenschaft eine
feste Größe.
Alfred
Einstein am Smith College. Foto: Smith College Archives
Am 5. Januar 1939 kommen Alfred Einstein, seine Frau Hertha, Schwester
Bertha und Tochter Eva in New York an. Voller Hoffnung blickt Einstein
auf Amerika, über das er im selben Jahr schreiben wird: „[...]
so lange dieser Krieg, ein Krieg um die Freiheit des Geistes, dauert,
so lange ist Amerika der einzige Zufluchtsort dieser Freiheit.“
(„Krieg, Musik, Nationalismus und Toleranz“, in: „Nationale
und universale Musik“) Während die meisten seiner Fachkollegen
in dieser Zeit nur schwer eine Anstellung an einer amerikanischen
Hochschule erlangen können, erhält Einstein bereits drei
Monate nach seiner Ankunft eine Anfrage des Smith College, einer
renommierten Frauenuniversität in Northampton, Massachusetts.
Späte Anerkennung
Seine wissenschaftliche Reputation ist schon lange beachtlich.
So hatte sogar noch 1937 die Reichsmusikkammer eine Sondergenehmigung
erlassen, um die Publikation des von Einstein überarbeiteten
Köchelverzeichnisses zu ermöglichen: Zu wichtig war offenbar
diese Arbeit, als dass das Dritte Reich darauf hätte verzichten
wollen. Doch mag Einsteins Name in Fachkreisen noch so groß
sein – erst in Amerika erhält er die lang ersehnte und
längst verdiente Vollanstellung an einer Universität.
So wird das Smith College von 1939 bis zu seiner Emeritierung 1950
Stätte seines Wirkens. Die Unterrichtsverpflichtung erweist
sich als äußerst gering, so dass Einstein sich neben
Gastvorlesungen an Universitäten wie Harvard, Yale und Columbia
vor allem seiner Forschung widmen kann.
Hat Einstein vorher hauptsächlich Zeitschriftenartikel veröffentlicht,
sind es jetzt Bücher, die aus der Materialfülle teilweise
jahrzehntelanger Recherchen und dem neu gewonnenen Freiraum am Smith
College erwachsen. Während der zwölf Jahre in Amerika
erscheinen: Briefe deutscher Musiker (1939), Greatness in Music
(1941), Mozart. His Character, His Work (1945), Music in the Romantic
Era (1947), (das dreibändige) The Italian Madrigal (1949) und
Schubert. A Musical Portrait (1951). Vor allem für „Mozart,
sein Charakter, sein Werk“ (deutsch 1947) ist er auch heute
noch weltbekannt.
Ins Paradies vertrieben
Einstein fühlt sich wohl in Amerika. Über das Dritte
Reich, den Krieg und seine Vertreibung ist er höchst verbittert,
doch wird er kein schlechtes Wort über die neue Heimat verlieren,
die ihn 1945 zu ihrem Staatsbürger erklärt. Seine guten
Arbeits- und Lebensbedingungen lassen ihn in einem Brief vom August
1948 an den österreichischen Komponisten und Pianisten Ernst
Toch von der „Vertreibung ins Paradies“ sprechen und
gegenüber seinem Freund, dem Komponisten und Musikkritiker
Erwin Kroll, merkt er im Dezember 1947 scherzhaft an, im Grunde
könne er seinem Führer nicht dankbar genug sein.
Der Blick zurück schmerzt jedoch sehr. Gegen Ende des Krieges
spricht Einstein von Resignation, muss er doch erkennen, dass seine
alte Heimat, so wie er sie kannte und liebte, für immer verloren
ist. Am 4. Dezember 1944 schreibt er an den Dirigenten Fritz Stiedry:
„Nun, mir kann sozusagen nichts mehr passieren, da ich vollkommen
resigniert habe: ich wünsche die Vernichtung der Nazi; und
ich wünsche den Sieg der Allies nur soweit, als er eben mit
dieser Niederlage verbunden ist. Mit Europa ist es zu Ende, die
Zerstörung aller Werte kann nie mehr gutgemacht werden. Die
nach uns werden unsereinen, ich meine unsere Generation, die noch
die paar Jahrzehnte vor 1914 gekannt hat, betrachten wie die Ueberlebenden
aus dem ancien regime, halb mit Mitleid, Ironie und Neid.“
Einstein stattet zwischen seiner Ankunft in den USA 1939 und seinem
Tod 1952 Europa nicht einen Besuch ab. Seine Pläne für
eine Reise nach Italien und in die Schweiz muss er 1951 wegen seines
Herzleidens aufgeben, doch nach Deutschland oder Österreich
würde er ohnehin keinen Fuß mehr setzen. Seine Bücher
veröffentlicht er zunächst auf Englisch, in der deutschen
Fassung dann bei schweizerischen, holländischen oder schwedischen
Verlagen. 1948 tritt er aus der Internationalen Gesellschaft für
zeitgenössische Musik aus, als diese die deutsche Sektion wieder
aufnimmt. Er räumt ein, dass er zwar nichts gegen die Integration
der Deutschen habe, aber dass er eben nicht dabei sein wolle.
Eine Einladung von der Freien Universität Berlin lehnt er
1949 ab, weil er keine Sehnsucht nach „einem Besuch im Vierten
Reich“ verspüre. Und als ihm im selben Jahr von der Internationalen
Stiftung Mozarteum die Goldene Mozart Medaille verliehen wird, schickt
er diese nach Salzburg zurück. In einem Brief an die Witwe
seines Freundes und Fachkollegen Ernst Kurth begründet er seine
Ablehnung der Ehrung: „Ich hoffe, Sie halten mich nicht für
einen eingebildeten Narren, wenn ich sage, dass in Salzburg niemand
ist, der in der Lage wäre mich zu ehren; und dass ich keine
Auszeichnung von Leuten annehmen kann, die zwischen 1938 und 1945
nicht nur verhindert gewesen wären, an mich zu denken, sondern
schon von selbst nicht an mich gedacht hätten.“
Englische Fuchsjagd
Aber auch von England, das ihm nach seiner Emigration aus Deutschland
1933 erste Zufluchtsstätte war, will sich Einstein distanzieren,
obschon er sich dort vieler Freunde sicher ist und sich mit Dankbarkeit
an die ihm entgegengebrachte Gastfreundschaft erinnert. Als im Sommer
1948 die englische Zeitschrift „The Monthly Musical Record“
eine im Ganzen eher unerfreuliche Besprechung seines Buches „Größe
in der Musik“ veröffentlicht, reagiert er ungehalten.
Vorgeblich jedoch nicht wegen der negativen Äußerungen
über sein Werk, sondern weil der Verfasser, Norman Suckling,
ihn als „typisch deutsch“ einstuft. Daraufhin erklärt
Einstein gegenüber dem Herausgeber der Zeitschrift, Eric Walter
Blom, seine Beziehungen zur englischen Publizistik für beendet
und führt aus: „Nun bin ich es einfach müde, mir
meine deutsche Abkunft vorwerfen zu lassen. Ich werde manchmal auch
in der americanischen Presse der ‚German scholar‘ genannt,
aber gewöhnlich (es gibt Ausnahmen auch hier) geschieht es
ohne ‚dolus‘; denn wohin käme dieses Land, wenn
es nur die Nachkommen der Leute gelten lassen wollte, die auf der
Mayflower herübergeschwommen sind./In England aber [...] ist
der ‚German scholar‘ als eine Detraction gemeint.“
Die Schlussformel seines Briefes spricht Bände: „Alles
Herzliche wie immer, Ihr alter (deutscher? jüdischer? Bindestrich-Americaner?)
Alfred Einstein“.
In einem zweiten Brief an Blom vom Oktober 1948 wird noch deutlicher,
wieso Einstein meint, England den Rücken kehren zu müssen:
„Es ist leider eine Tatsache, dass gewesene Nazis in der britischen
Oeffentlichkeit viel besser behandelt werden, als ‚exiles‘,
sagen wir der Staatsrat und philharmonische Standartenführer
Furtwängler, oder Herr Friedrich Blume, der es verstanden hat
sich in den Geruch eines heroischen Gegners der ‚Bewegung‘
zu setzen [...] Ich ziehe die Folgerungen. Es wird zwar behauptet,
dass bei einer englischen Fuchsjagd auch der Fuchs sich seiner sportlichen
Rolle bewusst ist, und sich in diesem Bewusstsein von den Hunden
mit Wonne zerfleischen lässt; aber ich zum mindesten bin kein
englischer Fuchs.“
Entnazifizierungen
Seine Verbitterung über die Rehabilitierung „gewesener
Nazis“ treibt Einstein in den Nachkriegsjahren in besonderem
Maße um. Mit einer ans pathologisch grenzenden Gründlichkeit
verfolgt er die Entnazifizierungsprozesse von Musikern und Fachkollegen
und wird nicht müde, Freunden sein Leid zu klagen. Erwin Kroll
schreibt er im August 1948: „All die Veilchen, die nach dem
Mai 1945 im Verborgnen geblüht haben, erheben wieder ihre Köpfchen,
[...] und bald werden sie mir nicht einmal mehr verzeihen, dass
ich nicht in Deutschland geblieben bin und mich habe vergasen lassen.“
Besonders erbost zeigt sich Einstein über die Entnazifizierung
Hans Pfitzners, mit dem er 1929 zusammengestoßen war, nachdem
dieser in seinem Buch „Werk und Wiedergabe“ gegen Einstein
polemisiert hatte. Im Mai 1948 nun äußert sich Einstein
über den, so seine Worte, „giftigsten unter allen componierenden
Gifthafen“ gegenüber Kroll: „Inzwischen ist er
[Pfitzner] ja, trotz der Freundschaft mit Gauleiter Greiser, ‚denazifiziert‘
worden, und wie man hier liest, dank den Zeugnissen von Bruno Walter
und Wilhelm Furtwängler: der eine ein sentimentaler Jämmerling
der die Schuhsohlen von Leuten leckt die ihn bespuckt haben, und
der andere der Schwachkopf, der ‚Deutschland in seiner tiefsten
Not nicht den Rücken kehren wollte‘ und selber dringend
noch der Entlastung bedarf. Es ist schon so: Nazis denazifizieren
Nazis.“
Im Gegensatz zu manch anderem Exilanten, der es vorzog, einen
Schlussstrich zu ziehen und das Leid der Diskriminierung und Verfolgung
hinter sich zu lassen, war es für Einstein offensichtlich wichtig,
akribisch zu überprüfen, wer Freund und wer Feind war
und nach außen unmissverständlich klarzumachen, dass
er nicht länger Mitglied der deutschen Wissenschaft war.
Es war ein Kampf um die eigene Würde und ein Ringen um Gerechtigkeit.
Amerika konnte ihm diese durch die Anerkennung seiner beruflichen
Verdienste ein Stück weit verschaffen, doch ein Nachkriegsdeutschland,
das Nazis offiziell ihrer Schuld enthob, konnte für Einstein
nicht viel besser sein als das Deutschland, das ihn diskriminiert
und vertrieben hatte.
Melina Gehring
Alfred Einsteins Nachlass befindet sich als Alfred Einstein Collection
in der Musikbibliothek der University of California, Berkeley.