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2005/12 | Seite 24
54. Jahrgang | Dez./Jan.
Musikvermittlung
Munterer Eklektizismus zwischen Avantgarde und Musical
Ein Projekt in Berlin und zwei in Kassel: Rundfunksinfonieorchester
Berlin, Vogler Quartett und TJO Kassel
Ist von Kooperationsprojekten zwischen Orchestern und Schulen die
Rede, landet man schnell bei Zukunft@BPhil: Den Berliner Philharmonikern
ist es mit ihrer groß angelegten Initiative binnen weniger
Jahre auf beeindruckende Weise gelungen, bundesweit zu demonstrieren,
dass eine intensive Förderung, Betreuung und Pflege des eigenen
Publikumsnachwuchses nicht nur sinnvoll ist, sondern auch als Selbstverständlichkeit
zum Aktivitätskanon zahlreicher Orchestermitglieder gehören
kann. Zeitgleich entstehen aber auch bei anderen Orchestern immer
neue Ansätze für eine engmaschigere Zusammenarbeit mit
allgemein bildenden Schulen. Alle haben gemein, dass die Darstellungsebenen
Musikhören, Instrumentalspiel und -improvisation, experimentelle
Stimm- und Sprachaktionen sowie szenisches Spiel zunehmend als gleichberechtigte
Aktionsformen „ins Spiel“ gebracht werden. Wie vielfältig
die Konzepte dabei ausfallen können, zeigen zwei weitere Beispiele
aus Berlin und Kassel.
Brandenburgische GesamtSchule Glöwen beim RSB
Mit der Gesamtschule im brandenburgischen Glöwen, eine Kleinstadt
eineinhalb Stunden von Berlin entfernt, pflegt das RSB seit einem
Jahr intensive Kontakte. Anfangs besuchten Musiker im vergangenen
Herbst die Schule und stellten Kindern der 6. Klassen ausgewählte
Musikstücke, ihre Instrumente und ihre Arbeit als Orchestermusiker
vor.
Hautnah:
Marek Janowski bot den Kindern an, bei Proben mitten im
Orchester zu sitzen. Links ein Brief von Florian über
seine Erlebnisse. Abb./Foto: RSB
Im Gegenzug besuchten die Schüler eine Probe mit dem Chefdirigenten
Marek Janowski und führten ein eigenes Stück zur Musik
von Ludwig van Beethoven auf.
Nun ging es weiter mit diesem Bildungsprojekt. Schüler der
10. Klassen aus Glöwen besuchten eine Probe zu unserer Konzertreihe
„Die großen Violinkonzerte der 30er-Jahre“ mit
dem Weltklasse-Violinisten Frank Peter Zimmermann im Haus des Rundfunks
in der Masurenallee. Chefdirigent Marek Janowski leitete dieses
Konzert. Während der geschlossenen Arbeitsprobe konnten die
Schüler zwischen den Musikern auf dem Konzertpodium, zwischen
Pauken, Hörnern oder Geigen, Platz nehmen und die Musik von
Alban Berg hautnah erleben. Im Anschluss kam es zu einer weiteren
Begegnung mit Marek Janowski. Lange hatten sie sich auf diesen Tag
vorbereitet. In den Fächern Musik, Ethik, Religion, Kunst und
Deutsch haben die Glöwener Schüler das Violinkonzert von
Alban Berg „Dem Andenken eines Engels“ kennen gelernt
und sich mit dem Thema „Junges Leben – Früher Tod“
auseinandergesetzt. Alban Bergs Konzert entstand nach dem Tod von
Manon, der Tochter Alma Mahlers, die 1935 an Kinderlähmung
starb. Ihr Tod im Alter von 19 Jahren löste im Kreis der Wiener
Musik-, Literatur- und Kunstszene große Betroffenheit aus.
So bezieht sich auch die Erzählung Franz Werfels „Manon“
auf diese tragische Geschichte. Die Schüler der Gesamtschule
Glöwen bereiteten im Unterricht eigens entwickelte Szenen mit
Texten, Bühnenbild und Kostümen vor, die sich dem Thema
widmen.
Anschließend führten die Glöwener Schüler
die vorbereiteten Szenen zu Alban Berg im Werner-Otto-Saal des Konzerthauses
am Gendarmenmarkt in Berlin vor den RSB-Musikern, Schülern
und Eltern aus Glöwen auf. Am selben Abend spielte das RSB
im Konzerthaus die Violinkonzerte von Alban Berg und von Paul Hindemith
sowie die Sinfonie Nr. 4 von Ludwig van Beethoven.
Musiker und Chefdirigent fühlen sich ihrem Bildungsauftrag
als Rundfunkorchester sehr verpflichtet. Seit längerem gibt
es Projekte mit Schulen und Musikpatenschaften einzelner Musiker
in Berlin und Brandenburg, wie die unseres Flötisten Rudolf
Döbler mit einer 3. Klasse der Kreuzberger Lenau-Schule. Die
szenische Aufführung der Glöwener Schule ist ein sehr
anspruchsvolles Projekt, das das RSB besonders – auch finanziell
– gefördert hat.
Zwei Kinder- und Jugendprojekte in Kassel
Es muss nicht immer Berlin sein! Lange hat man über die Notwendigkeit
gesprochen, mit neuen, mit originellen, mit professionellen Mitteln
Kindern und Jugendlichen die Tür zur klassischen Musik zu öffnen.
Aber erst Simon Rattles Berliner Aktivitäten haben, so scheint
es, dem Notwendigen überall eine Bresche geöffnet. Zwar
ist das gute, alte Kinderkonzert nicht tot, doch sind es nun neue,
kreativere Veranstaltungsformen, die an Bedeutung zulegen.
Ein
Brief
In Kassel, der mittleren Großstadt ohne Ballungsgebiet, nach
der Wiedervereinigung plötzlich ins Zentrum des Landes gerückt,
tut sich etwas. Im Sog der (gescheiterten) Bewerbung um den Titel
der „Kulturhauptstadt Europas“ haben sich mehrere Initiativen
gegründet, die nun ihre Früchte tragen. Eine davon sind
die „Nordhessischen Kindermusiktage“, das Projekt einer
Ärztin aus der Region unter dem Dach des Kammermusikvereins
der Stadt. In fast zweijähriger Vorbereitungszeit hat sie auf
drei Projekttage im Sommer hingearbeitet, in denen vor vollen Sälen
die Ergebnisse präsentiert wurden.
Die Idee ist einfach: Große Schüler schreiben Stücke
für kleine. Leistungskurse aus der gymnasialen Oberstufe bekamen
als Aufgabe, ein Grimm’sches Märchen so zu komponieren,
dass Kinder aus der vierten oder fünften Klasse es umsetzen
konnten. Und die Übung gelang. Die Oberstufenschüler verstanden
es, sich bei den Bremer Stadtmusikanten und Frau Holle auf einfachere
musikalische Fähigkeiten einzustellen: Lieder, Orff’sches
Instrumentarium, Lautmalereien et cetera. Ein munterer Eklektizismus
irgendwo zwischen Avantgarde und Musical ist so entstanden. Den
roten Faden spann mit dem bekannten Vogler Quartett ein professionelles
Ensemble, das nicht nur den jeweils obligaten Streichquartettpart
übernahm, sondern auch bereits bei den letzten Proben anwesend
war und auch einen Streichquartett-Workshop betreute.
Das zentrale Abschlusskonzert, dem anschließend Vorträge
und ein „normales“ Konzert des Vogler Quartetts folgten,
hatte noch eine weitere Komponente. Zwei Kasseler Jungkomponisten
– Stephan Peiffer und Malte Mekiffer – hatten neue Werke
geschrieben, die nun uraufgeführt wurden. Peiffer schrieb ein
kurzes, sehr dichtes Quartett für die Voglers, Mekiffer eine
rhythmisch betonte Suite für das Vororchester seines Gymnasiums
mit Streichquartett. Der Erfolg der Kindermusiktage zeigt, dass
solche Initiativen in einer innerstädtischen Kooperation zwischen
einem Veranstalter, mehreren Sponsoren und den örtlichen Medien
funktionieren können, wenn man nur will. Die Fortsetzung ist
auf dem Weg.
Und dann kam „Plim“. Auch das Staatstheater Kassel,
derzeit wegen Renovierung im Exil an verschiedenen Stätten,
setzt verstärkt auf musikalische Kinder- und Jugendarbeit.
Nicht nur passiv, sondern mit einer für die Stadt neuen Initiative
sollen Nachwuchsmusiker aktiv an das Theater herangeführt werden.
Für ein Opernprojekt in der Documenta-Halle wurde das TJO,
das „Theaterjugendorchester“ gegründet. Nach einer
Auswahl wurden etwa 50 Musikerinnen und Musiker im Alter zwischen
11 und 22 aus Kassel und der Region angenommen, die in einer durchaus
intensiven Probenphase stark gefordert und dadurch gefördert
wurden. Kapellmeister Andreas Wolf brauchte nur eine Probe, um sich
vom Staatsorchester auf die bunte Truppe umzustellen.
Das Ergebnis, das man dann in sechs Aufführungen Ende des
Sommers hören und sehen konnte, war mehr als passabel.
Aus dem zusammengewürfelten Haufen war ein durchaus leistungsbereites
und -fähiges Orchester geworden. Sinnvollerweise hatte das
Theater keine der bekannten Opern ausgesucht, sondern eine unbekannte
Kabarettoper aus dem Jahr 1932: „Rufen Sie Herrn Plim“
von Mischa Spoliansky, das im weltberühmten Kaufhaus Wertheim
spielt, wo sich die Beschwerden häufen.
Um den Kunden Tatkraft zu beweisen, stellt man Herrn Plim ein,
der immer dann gerufen wird, wenn sich wieder einer aufregt. Die
Hausfrauenfunktionärin etwa, die Rabatz macht, weil es keinen
grünen Nachttopf gibt oder die halbseidene Dame, die darauf
besteht, dass ihr der soeben erworbene Knopf nach Hause spediert
wird. Das ist Plims Stunde. Die Vorgesetzten machen ihn vor der
Kundschaft zur Schnecke und entlassen ihn zum Schein. Doch Plim
überzieht seine Rolle, setzt sich mehr in Szene, als dem Direktor
lieb ist. Bis er wirklich gekündigt wird. Doch keine Sorge,
alles wird gut. Ein witziger Stoff also und eine nicht minder sprühende
Musik voller Opernzitate und -persiflagen.
Und nicht zu schwer für das Jugendorchester, für dessen
Mitglieder das Projekt zum Erlebnis wurde. Auch hier hieß
es: Fortsetzung folgt. Es gibt eben nichts Gutes, außer man
tut es…