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nmz-archiv
nmz 2005/12 | Seite 12
54. Jahrgang | Dez./Jan.
Nachschlag
Sail away
Spätestens 2006 wird es in Deutschland scharf. Die TV-Gerätehersteller
setzen alle ihre Hoffnungen für das nächste Jahr auf HD,
High Definition. „Ha! Ho! Hee! Hochauflösendee, Fußball
WM“. Doch wenn die eigens erbauten Besucherbordelle wieder
schließen und sich der Deutsche wieder dem Jodeln, Weißbiertrinken
und Lederhosentragen widmet, was wird dann?
Werfen wir einen vorsichtigen Blick durch das nmz-Zeitfernglas:
2010. Deutschland gibt es inzwischen nicht mehr. Durch einen kleinen
bürokratischen Fehler im Zuge der Reformen von 2006 war versehentlich
die deutsche Verfassung, die nur noch elektronisch vorhanden war,
als Powerpoint-Präsentation für Windows 98 gespeichert
worden. „Pech“, so Bill Gates, Abwärtskompatibilität
sei out. So kam es denn, dass Deutschland unter den verbleibenden
3 Siegermächten des 2. Weltkriegs bis zur Fertigstellung einer
neuen fehlerfreien Verfassung aufgeteilt wurde. Dies kann sich nach
Prognosen noch lange hinziehen, da Word 2010 ausschließlich
mit Spracheingabe arbeitet.
FDP, Grüne und Linkspartei bilden die Regierung des amerikanischen
Sektors, Olaf Zimmermann (Deutscher Kulturrat) sitzt, als kulturelles
Alibi in der Jury von „Deutschland sucht noch immer den Superstar“.
Natürlich gibt es längst keine CDs mehr. Mit Augenimplantaten
versucht man dem hochauflösenden Fernsehen gerecht zu werden.
Die Trends von 2005 haben sich weiterentwickelt; „Tokio Hotel“
– eine deutsche Teenager-Konservenrockband – waren nur
die Vorreiter einer neuen Jugendbewegung, labil genug um alle Retrotrends
mitzumachen. Während die Popmusik schon fleißig Walther
von der Vogelweide covert, befinden sich andere Musikrichtungen
noch im BaRock, oder im Elektrozissmus. 2007 gab es einen Zusammenbruch
auf dem zeitgenössischen Klassikmarkt. „Die ganze Welt
orientiert sich nach hinten, warum sollen wir immer die unpopulären
Avantgardisten spielen!“ Das hatte zur Folge, dass alle Tonarten
bis auf C-Dur und A-Moll fortan zensiert wurden. Inzwischen wird
Klassik ausschließlich als Film- oder Computerspielmusik eingesetzt.
Unter dem Motto „Du biste Europa, eh!“ überquerte
2008 der italienische Ministerpräsident Berlusconi auf Elefanten
die Alpen, um die Schweiz in die Pflicht zu nehmen.
Ach, fast hätte ich es vergessen: Die Semperoper in Dresden
(übrigens das letzte übrig gebliebene Opernhaus im Land)
wurde von Radeberger Premium Pils gekauft. Einzige Oper im Programm
ist „Der fliegende Holländer“, in dem der Becks-Dreimaster
die gesamte Bühne einnimmt. Die Perkussionisten im Orchester
wurden allesamt durch ploppende Flensburgerflaschen ersetzt - „Sail
away!“.
Zurück in 2005 sehen wir uns das Logo für die WM 2006
an: „Freude, Heiterkeit, Emotion,“ so der Leitsatz.
Das ist das neue Deutschland! Selbstbewusst! Offen! Einfach lustig,
diese Arbeitslosen. Welcher Krieg denn? Oh ja, der! Schlimme Sache.
„Wir sind Helden“ – schon lange nicht mehr,
aber das ist den Machern solch einfältiger Werbekampagnen sowieso
schni-schna-schnuppe!