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nmz-archiv
nmz 2005/12 | Seite 45
54. Jahrgang | Dez./Jan.
Bücher
Erwartungsvolle Beziehung Künstler-Hörer
Ein Sammelband zum Problem der Voreingenommenheit in der Musik
Andreas Dorschel (Hg.): Dem Ohr Voraus. Erwartung und
Vorurteil in der Musik (Studien zur Wertungsforschung,
Bd. 44), Universal Edition, Wien/London/New York 2004, ISBN 3-7024-2709-0
Auch wenn es im Alltag des Musikbetriebes nicht immer so wahrgenommen
wird, spielt sich darstellende Kunst und die Musik im Besonderen
zu einem Großteil in einer dreifachen Ausprägung der
Erwartungshaltungen ab, so Andreas Dorschel in seinem einführenden
Beitrag zum vorliegenden Band der Studien zur Wertungsforschung,
der Beiträge einer Konferenz versammelt, die im November 2003
an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz
veranstaltet wurde: Von Seiten des Komponisten und auch des Interpreten
werden Erwartungen aufgebaut, eingelöst und durchkreuzt. Dabei
ist zu beachten, dass nicht nur der Hörer gewisse Erwartungen
an das Musikstück heranträgt, sondern zuweilen auch der
Komponist an den Konsumenten seines Werkes. Erstarrte Erwartungen
können sich zu Vorurteilen auswachsen, die eine Öffnung
dem unbekannten Werk gegenüber nur schwerlich zulassen. Wenn
man sich ein Vorurteil gebildet hat, wie zum Beispiel italienische
Opernmusik zu klingen hat, so wird man abweichende Erfahrungen eher
in die Kategorie „das ist ja keine echte italienische Oper“
einordnen, als sich einzugestehen, dass eventuell ein Wandel vonstatten
gegangen ist. Erwartungen sollen natürlich auch erfüllt
werden, allerdings ist das bloße Einlösen von bekannten
Mustern auch für den Hörer nur bedingt akzeptabel, weil
es dann schnell langweilig wird. Die Kunst besteht darin, mit den
Erwartungen zu spielen und damit das Musikerlebnis spannend zu gestalten
und neue Akzente zu setzen.
Mit konkreten Beispielen vertiefen die übrigen Autoren die
Ergebnisse, die Dorschel vorstellt. Anselm Gerhard macht das Phänomen
an Beispielen aus der textgebundenen Musik fest. So bringt er das
Beispiel aus Verdis Oper „Otello“, wo der Titelheld
die obligatorische Schlussarie nicht mehr singen kann, weil er vorher
sterbend zusammenbricht: bis dahin ungehört und für manche
damals auch unerhört. Wilhelm Seidel erörtert in seinen
Ausführungen den ersten Satz von Mozarts Streichquartett KV
464, der die Hörer durch eine Aneinanderreihung von Erwartungsenttäuschungen
verstört. Beethovens „plötzliches piano“ (piano
subito) und der Umgang der Interpreten damit ist ein weiteres Exempel
eines gestörten Erwartungsverhältnisses, wie Birgit Lodes
schreibt. Hans-Joachim Hinrichsen macht das Problem anhand der Kammermusik
Schuberts deutlich.
Unerwartetes kann aber auch von den Hörern gefordert oder
erwartet werden, wie Karin Marsoner in ihrem Beitrag eruiert. Robert
Schumann stellt in seinem Piano-Zyklus „Carnaval“ den
einzelnen Stücken bestimmte Titel als Maskierungen zur Seite.
Der Hörer erwartet durch die Auswahl bestimmter Figuren, dass
unerwartete Passagen folgen werden. Renate Bo-zic stellt fest, dass
die Hörerschaft durchaus an Neuem interessiert ist und auch
Unerwartetes erwartet, dennoch will sie eine gewisse Basis, an der
sie sich orientieren kann. Nicht umsonst tat und tut sich die Neue
Musik nach 1945 so schwer, Anhänger zu finden. Mit den zum
Teil radikalen Ansätzen eines John Cage zum Beispiel, die Tradition
zu vergessen, um eine „voraussetzungslose Musik“ zu
schaffen, hatten viele zu kämpfen, da ihnen die Basis von vertrauten
Arrangements genommen wurde. Der Hörer wird bei dieser Art
von Musik sehr stark gefordert. Die Bereitschaft, sich einem Werk
so intensiv zu widmen, ist dabei nicht immer vorhanden.
Tilo Medek und Christine Whittlesey ergänzen die Beiträge
durch ihre Sicht der Dinge als Komponist beziehungsweise Interpretin
ohne jedoch neue Aspekte vorzubringen. Georg Franck steht mit seinen
philosophischen Ausführungen über die „Dimensionalität
der musikalischen Zeit“ etwas abseits der anderen Teilnehmer.
Obwohl seine Betrachtungen über die Dauer der Gegenwart, die
sich übrigens im Bereich von circa drei Sekunden abspielen
soll, durchaus nicht uninteressant sind, wirken sie an dieser Stelle
deplatziert. Der Zusammenhang von Gegenwartsdauer, musikalischer
Wahrnehmung und der Erwartungshaltung drängt sich auf den ersten
Blick nicht auf.
Der Sammelband gibt dennoch einen wertvollen Einblick in die musikwissenschaftliche
Forschung und bleibt auch dem interessierten Laienpublikum weitgehend
verständlich. Zusammenfassungen in englischer Sprache am Ende
der einzelnen Beiträge machen den Band auch einer nicht deutschsprachigen
Leserschaft zugänglich und die verschiedenen Blickwinkel der
Autoren geben Auskunft darüber, wie facettenreich die behandelte
Thematik ist.