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nmz-archiv
nmz 2005/12 | Seite 42
54. Jahrgang | Dez./Jan.
Rezensionen
Das Leben ist kurz, Langeweile verlängert es
Letzte Tipps zum Thema Pop-Schallplatten 2005
Das wohl langweiligste Jahr der Popgeschichte geht rapide zu Ende.
Bleibendes und noch einmal zu Erwähnendes drängt sich
nicht auf. Gut, Bohlen darf wieder im Casting-Sandkasten spielen,
Madonna sieht um Jahre älter aus und Robbie Williams weiß
immer noch nicht, ob er nun Manderl oder Weiberl ist – respektive
bevorzugt. Stürzen wir uns auf den Rest des Jahres und einige
letzte versöhnliche Töne.
Zwar schon Anfang November erschienen, dennoch mehr als erwähnenswert
ist die jüngste Veröffentlichung der norwegischen Pop-Titanen
a-ha. „Analogue“ entstaubt relativ respektlos sämtliche
dem Kommerz zum Fraß vorgeworfenen Alben im Stil eines Robbie
Williams oder einer Madonna. Diese drei Norweger gehen gnadenlos
mit Popmusik um, entrümpeln den Pathos, begreifen Pop als Songwriting
und reduzieren humorlos aber expressiv und teils irrational jeden
Song auf das Essentielle. Winter-Melancholie ist bei a-ha keine
hohle Phrase, sie nimmt konkrete Züge an, Musik als Leben zu
stilisieren. Ganz vorzüglich sogar. Hemdsärmelig kommt
zu Weihnachten gar nicht an, deswegen liegt man mit der Kompilation
„Best Acoustic Album… Ever“ nicht so falsch. Alle
Größen, die je Strom- mit elektrifizierten Gitarren tauschten,
stimmen in anheimeliges und behagliches Akustikrauschen ein. Eine
stille Nacht und eventuell zärtliche Nächte kann es auf
dieser Doppel-CD unter anderem mit R.E.M, Oasis, Blur, Depeche Mode,
The Verve, Joss Stone oder Radiohead geben.
Völlig aus unseren vorgestanzten Schemen entreißt uns
arme Püppchen der türkische Wunderpianist Aydin Esen mit
seinem Album „Dialogo“, den er eindeutig nicht mit den
Hörern führt, denn er ist perfekt, aber ein kauziger Zausel.
Er hebt die Käseglocke, nimmt sein Talent und vermengt das
mit Klassik, Jazz, Elektronik. Von Songs oder Kompositionen scheint
er weit entfernt. Er bietet Collagen an, Versatzstücke, Fragmente.
Oft einzigartig schön, dann abgrundtief unverständlich.
Und stets unberechenbar. Nennen wir ihn ruhig den „Harry Potter
der Pianisten“ und grienen über derart freche Musikvorschläge.
Wahre Reduktion und Fokussierung auf den Jazzpunkt bietet nicht
zum ersten Mal aber wiederum charmant „leiwand“ der
Österreicher Parov Stelar mit „Seven And Storm“.
Es gibt eigentlich nur ihn, der um Samples alter Jazzplatten charmante
Tracks – wie der Neudeutsche so sagt – bastelt. Lediglich
aber intensiv unterstützt von Gesang oder Schlagzeugspuren
(auch Beats genannt), die fast verstohlen im Hintergrund laufen,
so dass man schlicht in „Seven And Storm“ versinkt wie
im heimischen Kuschelkissen. Scheinbar ist der „Prinz der
Dunkelheit“ der Einzige, bei dem es richtig läuft. Von
MTV reanimiert wirft Ozzy Osbourne eine Veröffentlichung nach
der anderen auf den Markt, „Under Cover“ lautet die
aktuelle. Vierzehn bislang nicht bekannte Coverversionen hat Osbourne
eingesungen, darunter den John Lennon-Evergreen „Woman“,
Creams „Sunshine Of Your Love“ oder „All The Young
Dudes“ von „Mott the Hoopl“. Man muss überraschenderweise
gestehen, dass Osbourne das nicht schlecht macht und sofort fragen:
„Warum nicht schon früher?“ Der Boss – also
Bruce Springsteen – feiert den 30. Jahrestag der Veröffentlichung
seines Stigmata-Albums „Born to Run“. Der Konsument
darf teilhaben und das relativ opulent mit dem Box-Set „Born
to Run“. Zu ergattern sind ein digital überarbeitetes
„Born To Run“-Album, eine DVD mit dem „Making
of“ des Albums sowie drei unveröffentlichten Songs in
Live-Versionen. Eine weitere DVD glänzt mit dem Konzert „Bruce
Springsteen and the E- Street Band – Hammersmith Odeon, London
1975“, das zugleich der erste komplette Konzertfilm von Bruce
Springsteen ist. Ruhig zuschlagen, ist für die Ewigkeit.
Mit dem vierten schmackhaften Teil macht sich die bemerkenswerte
Deluxe Edition zum vierten Mal an den Fan und Vergötterer ran.
Das unerreichte Konzept in Kurzform: „Ursprünglich als
Einzel-CDs veröffentlichte Meilensteine der Musikgeschichte
sind wieder mit Bonusmaterial, Konzertmitschnitten, Studio Outtakes,
Übungsraumversionen und Remixen als Zwei-CD-Digipack neu erhältlich.
Diesmal freut man sich über Elton John (Captain Fantastic),
Tears For Fears (Songs From the Big Chair) oder Joe Cocker, Sonic
Youth und Paul Weller (Stanley Road). Einfach „superb“
und lecker. Dass Dynamik einen Namen hat – nämlich Wilco
– wissen wir seit ihrem Album „Yankee Hotel Foxtrot“.
Ihr aktuelles Meisterwerk „Kicking Television – Live
In Chicago“ zeigt die Band auf ihrem Höhepunkt. Selten
hat man eine so homogene Band gehört. Es knistert in jedem
Song. Es brutzelt mit jedem Akkord. Es brennt mit jeder Dynamikschwankung.
Und dabei zeigen Wilco ihren Nacheiferern wie Coldplay nicht nur
was eine Harke ist, sondern wie Emotion wirklich klingen kann. Überirdisch.
Mehr als ein Fünkchen „Funk“ legen die Holländer
Kraak & Smaak auf den Tanzboden. Italo-Pop, Jazz, Nujazz, Blues,
Fender Rhodes, Breakbeats, Dancefloorkisten, Basshooks und Melodien
drehen sich um das zentrale Anliegen des Trios: Funk zu entstauben
und neu aufzulegen. Eine gewitzte Platte, die schelmisch grinst
und voller Ironie steckt. Extrem kaufbar.
Jeder Kritiker dieser Welt hat darauf gewartet Madonna mit „Confessions
on a Dance Floor“ zu zerreißen und auf den Boden zu
werfen – ging daneben. Madonna legt nach wir vor eine flotte
Sohle aufs Parkett, lässt sich mit vielerlei Hilfe Songs voller
Zeitgemäßheit auf den knackigen Leib schneidern und bleibt
unantastbar. Angenehmes Restjahr wünscht…
Sven Ferchow
Diskografie
• a-ha: Analogue (Universal, 11/2005)
• V.A.: Best Acoustic Album …Ever (EMM)
• Aydin Esen: Dialogo (Material Records)
• Parov Stelar: Seven And Storm (Etage Noir)
• Ozzy Osbourne: Under Cover (SonyBMG)
• Bruce Springsteen: Born To Run/Box Set (Sony BMG)
• V.A.: Deluxe Edition (Universal, 11/2005)
• Wilco: Kicking Television – Live In Chicago (Warner)
• Kraak & Smaak: Boogie Angst (Jalapeno Records)
• Madonna: Confessions on a Dance Floor (Warner)