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nmz-archiv
nmz 2005/12 | Seite 34
54. Jahrgang | Dez./Jan.
ver.die
Fachgruppe Musik
Die Welt darf nicht am Penny-Markt enden
Am Brennpunkt im Essener Norden: Einmaliges Musik-Schul-Projekt
gegen die geistige Verarmung
Auf mindestens drei Jahre angelegt ist das Projekt „ReSonanz
& AkzepTanz“, das Mitte September in Essen an einer Grundschule
begonnen hat, einem sozialen Brennpunkt in der Nordstadt. Kurz gesagt
bedeutet „ReSonanz & AkzepTanz“: In drei Jahren
wird in den acht Klassen der Ganztags-Schule keine Stunde mehr vergehen,
in der nicht musiziert, getanzt und gesungen wird, um das Lernen,
die Integration und Gewaltprävention voranzubringen. Psychischen
und physischen Defiziten der Kinder soll zumindest entgegengewirkt
werden. Partner des einzigartigen Unternehmens sind das Mozarteum
Salzburg, die Philharmonie Essen und die Herbartschule unter der
Schirmherrschaft des NRW-Kulturratsvorsitzenden Gerhard Baum.
Am Morgen dieses Tages wirkt alles so normal in Essen-Katernberg,
als befände man sich in einer guten, ungestörten Welt.
Aber was ist normal? Was eine gute Welt? W., dessen polnischer Großvater
als Bergmann in Katernberg noch an seiner Staublunge krepiert war,
hatte gedrängt: „Wenn du nach Katernberg fährst,
achte auf die sieben Kastanienbäume, mehr Bedeutungsvolles
aus meiner Kindheit habe ich dort später nicht entdeckt.“
Die Kastanien sind nirgends zu sehen, stattdessen verlassene Industrieanlagen,
Schrott, unauffällige Bergarbeiterhäuser, verrammelte
Läden, ein ausgebranntes Gebäude und über allem unzählige
Satellitenschüsseln. Bedeutungsvolles über Essen-Katernberg
stand im „Stern“ Ende letzten Jahres: „Das wahre
Elend“, eine Reportage von Walter Wüllenweber über
Essens Norden als „bildungsfreie Zone“. Eine Übertreibung.
„Zehn, fünfzehn Minuten müssen Sie noch stadtauswärts
laufen“, hatte die Frau an der Bushaltestelle den Weg zur
Herbartschule beschrieben. Die Grundschule liegt im Grünen,
überragt von alten Bäumen, der Garten gleicht eher einem
Bauernhof als einem Schulhof. Ein paar Stufen führen ins Gebäude.
Im Foyer hat jemand Leitsätze aufgeschrieben und aufgehängt:
„Ich möchte niemandem wehtun.“
In der Klasse 2a hocken drei Studentinnen und zwei Professoren:
Verena Eidenberger, Meral Hees und Arnika Ludwig sowie Thomas Heuer
und Klaus Feßmann vom Mozarteum in Salzburg, Platz ist nur
noch neben Mert und Samet Can auf einem Kinderstuhl.
Mert und Samet Can, die sich gegenübersitzen, sind zwei der
14 türkischstämmigen Schüler der 2a. Drei weitere
sind Bosnier, ein Kind kommt aus Kasachstan, eins hat marokkanische
Eltern, drei sind Deutsche. Das ist hier normal, ebenso die Fröhlichkeit.
Zur „guten Welt“ zählen außerdem der deutsche
Lehrer Ingo Worofka und der türkische Lehrer Ilhan Cetin, der
sich gerade zu Mert setzt, um ihm beim Ausfüllen eines simplen
türkischen Arbeitsbogens zu helfen. „Auto“: Mert
kann kaum buchstabieren, Ilhan Cetin wiederholt ihm mehrfach die
Folge von Konsonanten und Vokalen, Mert radiert, sinnt, liest von
den Lippen des Lehrers, korrigiert, während Samet Can, gegenüber,
sehr langsam, aber verständlich, einen deutschen Text liest.
Mert wäre ein toller Fußballspieler, erklärt der
türkische Pädagoge später im Lehrerzimmer, obwohl
er körperlich etwas behindert sei. Motorisch auffällig
bewegen sich andere Kinder der Klasse, wenn sie schreiben oder malen,
und wir werden Zeuge von emotionalen Aus- und Einbrüchen, deren
Ursachen wohl konzentrationsbedingt sind. Ingo Worofka und Ilhan
Cetin haben das seit vielen Jahren des Teamteachings im Griff, sie
planen zusammen, begegnen differenziert Konzentrationsschwächen
und dem unterschiedlichen Entwicklungsstand der Kinder durch individuelle
Zuwendung. Wenn sie an ihre Grenzen geraten, helfen Sozialtherapeuten
und Psychologen.
„Wir müssen sie in den vier Jahren fit fürs Regelsystem
machen, ohne die Lernfreude und ihre Lernbereitschaft zu zerstören.
Bei den Voraussetzungen, die die Kinder mitbringen, ist das wie
die Quadratur des Kreises“, sorgt sich Worofka.
Gute pädagogische Bilanz
Was wir Gäste sehen, nennen die Lehrer einen großen Fortschritt.
Ursprünglich sollte die Schule 1999 geschlossen werden. Wie
solche Pläne auf den Tisch kommen, ist bekannt: 85 bis 90 Prozent
Ausländerkinder, große Probleme, mehr oder weniger qualifizierte
Kritik einiger deutscher Eltern, Geburtenrückgang und Abwanderung
sozial besser Gestellter aus dem Viertel, eine konkurrierende Schule,
wo die Verhältnisse etwas besser aussehen, eine Schulbürokratie,
die angesichts der Zustände einknickt.
Die Schulbürokratie musste fortan mit dem Engagement der Rektorin
Angelika Sass-Leich und ihres Kollegiums rechnen. Gemeinsam setzten
sie einen Modellschul-Plan durch, der besonders gefördert wird,
und sie gewannen die Yehudi-Menuhin-Stiftung zum Mittun sowie einen
Ganztagskindergarten, der die Kinder auf den Schulbesuch vorbereitet.
Schon die erste pädagogische Bilanz vor zwei Jahren fiel sensationell
aus. Fünf Schüler verließen die Grundschule in Richtung
Gymnasium, zehn Richtung Realschulen, vier wurden bei Gesamtschulen
und fünf bei Hauptschulen angemeldet. Wie komplex jedoch die
Probleme sind, machte erst der „Stern“ publik. Wüllenweber
schrieb über das System sozialer Verwahrlosung in Katernberg,
über Arbeitslosigkeit, desolate Familienstrukturen, Männer,
die sich nicht mehr um Arbeit bemühen, weil sie dann Alimente
zahlen müssten. Er schrieb über die mangelhafte Sprachfähigkeit
von Migranten in der zweiten und dritten Generation, sowohl in der
Herkunftssprache wie auch im Deutschen, über die sich nach
unten drehende Bildungsspirale, über Kriminalität, über
den Zusammenhang von Fernsehkonsum, Internet und Lebensplanung.
Menschen dieser Unterschicht seien die „Zuschauer des Lebens“,
stellte Wüllenweber fest, „in unserer heutigen Wirtschaft
ist die Unterschicht überflüssig“. Und: „Das
Elend ist keine Armut im Portemonnaie, sondern die Armut im Geist.“
Fazit: Keine Zukunft ohne Bildung.
Das stellen inzwischen alle gebetsmühlenartig fest. Aber als
der Philharmonie-Intendant Michael Kaufmann und der Musikprofessor
Klaus Feßmann – langjährige Bekannte – diesen
„Stern“-Artikel lasen, waren sie erschüttert. „Wir
müssen Wege finden, um an die Kinder aus diesen Familien heranzukommen
– es ist meine Pflicht, das zu tun“, verkündet
Essens Intendant Kaufmann überall mit nicht nachlassender Eindringlichkeit.
Zunehmend stelle sich die Frage, wie sich eine auf der Basis des
mitteleuropäischen Kulturverständnisses stehende Gesellschaft
durch die scheinbar gravierende Werte-Veränderung wandle. Feßmanns
Überlegung dazu: Gegensteuern könne man nur, wenn die
Pfade der herkömmlichen Schularbeit verlassen würden.
Zusammen mit Kollegen des Mozarteums, vor allem mit Thomas Heuer,
wurden im Rahmen der Lehrveranstaltung „Musik und Tanz in
fächerübergreifenden Gestaltungsprojekten“ Konzepte
erarbeitet, wie Musikpädagogen und -studenten der gesellschaftlichen
Werte-Erosion begegnen müssten. Feßmann und Heuer sind
überzeugt, dass mit dem herkömmlichen Musikunterricht
– der oft noch frontal gehalten wird – keinem Aspekt
des gegenwärtigen Destruktionsprozesses beizukommen ist.
Künftig würden an Ausbildungsstätten wie dem Orff-Institut
der Universität Mozarteum Salzburg spezielle musikpädagogische
Module auf Brennpunkte und Deformationen hin entwickelt, angeboten
und auch verkauft – um beispielweise Emotionen, Selbstbewusstsein,
Körpergefühl und Sozialverhalten zu entwickeln, Aggression,
Problemflucht und Ängste abzubauen. Solche Konzepte, überdies
mit Kultureinrichtungen an der Seite, müssen die Schule zum
Lernort von Lebensbewältigungsstrategien aufwerten, sind sich
Feßmann, Heuer und Kaufmann gewiss. In diesem Geist jedenfalls
wurde „ReSonanz&AkzepTanz“ geboren.
Noch sind sie in Essen-Katernberg damit am Anfang. Alle Kinder
sind in die Philharmonie eingeladen worden. Es gab Pizza, ein Philharmonie-T-Shirt
und ein kleines Orgelkonzert zum Kennenlernen. Ein Riesen-Hallo.
Bei der Einweihung der neuen Turnhalle fand ein Gegenbesuch statt,
und die Philharmonie stiftete eine Klanginstallation. Alle sind
begeistert. Die Religionslehrerin findet ein schönes Bild:
„Kulturell sind unsere Kinder wie frisch gefallener Schnee.“
Das wird sich im Dezember ändern, wenn die Philharmonie in
der Turnhalle für Kinder, Eltern und Freunde zweimal „Hänsel
und Gretel“ aufführt und ein Schulchor gegründet
ist. „Die sind ja völlig offen für alles“,
sagt die Lehrerin Löcher und erzählt, wie die Kinder kaum
zu bändigen sind, wenn sie tanzen dürfen und trommeln
können – auf jeder Blechbüchse.
Endlosdiagnostik nötig
Wir besuchen eine Sportstunde. Manche Kinder dieser ersten Klasse
bewegen sich dennoch wie Spastiker zur Erkennungsmelodie der „Sendung
mit der Maus“, die die Lehrerin aus einem plärrenden
Recorder abspielt. „Genau das wird sich ändern“,
erklärt Feßmann, der sich über das rhythmische Tohuwabohu
beim Klatschen wundert: „Was haben die nur im Kindergarten
getrieben?“
Zwei Lehrerinnen beaufsichtigen die Klasse, die drei Studentinnen
beteiligen sich an den simplen Spielen. Die Lehrerinnen sehen nicht,
wie sich einige der Jungen treten und Jagd auf eines der Mädchen
machen. „Bei einigen der Kinder ist eine Endlosdiagnostik
nötig – und ein Verhaltenstherapeut, aber es wird immer
schwieriger, in akuten Fällen Termine zu bekommen“, erzählt
Frau Löcher. Sie hat 16 Jahre in England gelebt, ist seit einem
Jahr wieder in Essen und hat schon einmal an einer Schule mit ähnlichem
Brennpunkt gearbeitet. Sie erzählt von einer Schulfahrt im
vergangenen Jahr ganz in die Nähe von Essen. Die Kinder seien
fast ausgeflippt, als sie vom Bus aus die ersten Felder und Tiere
entdeckten. „Ich hatte einen riesigen Kloß im Hals –
für die endet doch die Welt normalerweise am nächsten
Penny-Markt.“ Normalerweise? Auch das wird sich ändern.
Im Schulflur hängen die Kinder wie Trauben an den Studentinnen,
um sie zum Abschied zu umarmen.
Sie sind längst wieder in Katernberg gewesen. Seit Anfang
November kommen sie sogar jede Woche, um mit den Kindern zu musizieren
und zu tanzen. In jeder Schulstunde.